Die Ankunft
20.11 Uhr gestanden, als ich nach dem Umziehen meine Brille neben ihm abgelegt hatte. » Okay, Nächtliche Emily«, flüsterte ich, die Augen noch immer geschlossen. » Letztes Mal haben wir gut zusammengearbeitet. Ich weiß, dass wir das wieder können. Also … bring uns nicht in Schwierigkeiten oder so. Bitte.« Die Nächtliche Emily erwiderte nichts. Ich atmete aus. Atmete wieder ein … und der Atemzug blieb mir im Halse stecken. Ich riss die Augen auf. Meine Sehkraft war messerscharf. Ich war zurück. Nach zwei Tagen erzwungener Besinnungslosigkeit war ich, Gott sei dank, endlich wieder hellwach. » Ja, zum Teufel«, sagte ich und grinste. » Keine Sorge, Tagsüber-Emily. Ich stehe hinter dir.« Inzwischen hatte ich schon Routine: Die Kissen kunstvoll so unter Tagsüber-Emilys Bettdecke drapiert, dass sie mehr oder weniger die Form eines nicht atmenden, mit Federn ausgestopften Menschen hatten. Lichter aus. Fenster auf. Füße auf das Fensterbrett – und ein Sprung auf das nasse, dunkle Gras unter mir. Ich landete in der Hocke, und meine Turnschuhe drückten sich in den feuchten Boden. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen, und die Luft war frisch und klar. Ich sog die erdigen Gerüche und die von Abgasen gereinigte Luft um mich herum ein. Es tat so gut, wieder draußen zu sein, die Muskeln zu dehnen und sie so zu bewegen, wie ich es mir in den letzten paar Nächten gewünscht hatte, während ich hinter einem Nebelschleier aus dämlichen Pillen gefangen gewesen war. Obwohl ich schon wieder wie ein Fassadenkletterer herumlief anstatt so sagenhaft heiß, wie ich wohl wissend in der Lage war. Schwamm drüber. Ich würde mich Tagsüber-Emily zuliebe gut benehmen. Ich meine, mir zuliebe. Uns beiden zuliebe.
Von der anderen Straßenseite her ertönte ein monotoner, dumpf dröhnender Rhythmus. Dalton. Der noch immer im Wagen auf mich wartete. Nur hatte er inzwischen seine noble Anlage auf volle Lautstärke gedreht. Ich sah ihn durch die Autoscheibe, wie er mit dem Kopf im Takt wippte und dabei mit den Händen auf ein unsichtbares Schlagzeug einschlug. Mit einem breiten Grinsen ging ich auf den Wagen zu. Ich umrundete ihn, um auf die Beifahrerseite zu gelangen, öffnete die Autotür und ließ die Musik raus. Sie war lauter, als ich gedacht hatte. Tatsächlich war sie derart laut, dass man nicht mehr erkennen konnte, welches Lied überhaupt gespielt wurde. Ich zuckte zusammen, hechtete jedoch schnell auf den Beifahrersitz und schlug die Tür zu. Das Letzte, was ich jetzt brauchte, war, dass irgendein Nachbar oder meine Eltern herauskamen und mich dabei erwischten, wie ich mich mit einem Jungen davonschlich. Das würde dem Abend ganz sicher einen Dämpfer verpassen, und den brauchte ich so ganz und gar nicht.
Dalton merkte nicht, dass ich zurück war. Mit geschlossenen Augen sang er hoch und falsch mit, während sein Kopf auf und ab zuckte und er mit den Fäusten trommelte. Ich verdrehte die Augen, beugte mich vor und drosselte die Lautstärke auf ein Maß, bei dem kleinen Kindern nicht das Trommelfell platzen würde.
Dalton wandte mir blitzschnell den Kopf zu und schaute mich finster an, wenn auch nur einen Moment lang. Dann sog er die Luft ein, als wollte er sie inhalieren, und sein Gesicht nahm einen weichen Ausdruck an. Beängstigend.
» Probierst du gerade aus, ob du deine Lautsprecher tatsächlich zum Explodieren bringen kannst?«, fragte ich. » Oder bist du in den Teil des Gehirns geschossen worden, der für die Verarbeitung von Klängen zuständig ist?«
Dalton lachte schallend los und klang dabei fast wie sein widerlicher Vater. Er schlug mit den Handflächen gegen das Lenkrad und hüpfte im Sitz auf und ab. » Das ist Musik, Mann!«, sagte er. » Ich liebe sie laut. Ich liebe es, wie sie in mir hämmert, bis mir fast das Herz zerplatzt. Ich liebe das!« Er schlug so kräftig auf das Lenkrad, dass es in einer neuen Position einrastete.
» Hey, alles klar, ich hab’s kapiert, du Energiebündel, du stehst auf Musik.« Ich presste seine Schultern hinunter, bis er aufhörte, auf seinem Sitz auf und ab zu hüpfen. » Hast du dein Ritalin nicht geschluckt?«
Er sah mich an und bebte förmlich vor kaum zu bändigender Energie. » Nein, Emily, du verstehst das nicht«, sagte er. » Bei mir zu Hause muss es immer ruhig zugehen. Wenn ich Gewichte stemme, mache ich das mit Ohrhörern, aber das ist nicht dasselbe, als wenn einen die Musik völlig umgibt. Am liebsten würde ich …« Er hörte auf zu sprechen und
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