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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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rechts abgetrieben, dann aber von wütenden, halluzinierenden Patienten wieder nach links gedrängt. Er umschiffte die Untiefen der Senilen oder Zurückgebliebenen, um schließlich an ihrer beider Tisch zu landen, wo er sich mit einem befriedigten Grunzlaut auf seinen Stuhl fallen ließ.
    Francis stieß mit der Gabel in die schnell erstarrende Pampe auf seinem Teller.
    »Die wollen offenbar nicht, dass wir dick werden«, sagte er.
    »Irgendwer hat behauptet, sie streuen Propaphenin übers Essen«, sagte Napoleon, indem er sich vorbeugte und in einen konspirativen Flüsterton wechselte. »Auf diese Weise können sie gewährleisten, dass sie uns alle ruhig gestellt und unter Kontrolle haben.«
    Francis schielte zu den beiden Frauen hinüber, die – ihres Puddings beraubt – immer noch kreischten. »Na ja«, sagte er, »glaube ich eher nicht, scheint zumindest nicht allzu gut zu funktionieren.«
    »C-Bird«, sagte Peter und wies unauffällig auf die beiden Streitenden, »wieso sind sie sich, deiner Meinung nach, so in die Wolle geraten?«
    Francis sah auf, überlegte, zuckte die Schultern und antwortete: »Wackelpeter?«
    Peter konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Doch er schüttelte den Kopf. »Nein, das sehe ich nicht so. Eine Schüssel giftgrüner Pudding. Ich hätte nicht gedacht, dass man sich deswegen prügelt. Aber wieso Wackelpeter? Und wieso gerade jetzt?«
    In dem Moment begriff Francis, worauf Peters Frage in Wahrheit zielte. Peter hatte eine besondere Art, weiter reichende Fragen in alltäglichere zu kleiden, eine Gabe, die Francis an ihm bewunderte, weil sie schon mal von der Fähigkeit zeugte, über die Mauern von Amherst hinauszublicken. »Es geht darum, etwas zu haben, Peter«, sagte er. »Es geht um etwas Handgreifliches, weil es hier drinnen so wenig gibt, das wir tatsächlich besitzen können. Es geht nicht um den Wackelpeter. Es geht darum, den Wackelpeter zu
haben
. Eine Schüssel Wackelpeter ist es nicht wert, sich in die Haare zu kriegen. Aber etwas, das uns daran erinnert, wer wir sind und was wir sein könnten, das uns an die Welt erinnert, die uns irgendwann einmal wieder erwartet, wenn wir nur genügend kleine Dinge in den Griff bekommen können, die uns wieder zu menschlichen Wesen machen, also, deswegen kann man sich schon mal prügeln, oder?«
    Peter schwieg und dachte über das, was Francis gesagt hatte, nach, bevor sie alle drei sahen, wie die beiden Frauen in Tränen ausbrachen.
    Peter konnte die Augen nicht von dem Paar lassen, und Francis hatte das Gefühl, dass es den Fireman bis ins Mark treffen musste, weil er nicht hierher gehörte. Francis warf einen verstohlenen Blick auf Napoleon, der lächelnd mit den Schultern zuckte und sich genüsslich wieder seinem randvollen Teller widmete. Napoleon gehört hierher, dachte Francis. Ich gehöre hierher. Wir alle gehören hierher, außer Peter, und er muss tief in seinem Innern große Angst davor haben, allmählich wie wir zu werden, je länger er bleibt. Irgendwo in seinem Kopf hörte Francis zustimmendes Raunen.
     
    Gulptilil blickte misstrauisch auf die Namensliste, die Lucy ihm auf den Tisch geknallt hatte. »Das sieht nach einem ziemlich breiten Querschnitt der gesamten Anstaltsbewohner aus, Miss Jones. Darf ich wohl fragen, nach welchen Kriterien Sie Ihre Auswahl unter den Patienten getroffen haben?« Mit dieser Frage klang er steif und wenig hilfsbereit, und sein trällernder Singsang zog seine prätenziöse Art vollends ins Lächerliche.
    »Selbstverständlich«, erwiderte Lucy. »Da ich letztlich nicht nach psychologischen Kriterien gehen konnte, wie etwa bei einer signifikanten Krankheit, habe ich mich stattdessen an eine Vorgeschichte von Gewalt gegen Frauen gehalten. Alle fünfundsiebzig Kandidaten hier haben etwas getan, was man als Feindseligkeit gegenüber dem anderen Geschlecht deuten kann. Einige zweifellos mehr als andere, jedenfalls erfüllen sie alle dieses Auswahlkriterium.« Lucys Sprechweise war nicht weniger geschraubt als die des Chefarztes, eine schauspielerische Gabe, die sie in ihren Jahren bei der Staatsanwaltschaft kultiviert hatte und die ihr bei offiziellen Gelegenheiten schon oft geholfen hatte. Der Bürokrat, der sich nicht von jemandem einschüchtern ließ, der seine Sprache besser als er selbst beherrschte, musste erst noch geboren werden.
    Gulptilil sah erneut auf die Liste und ging die Namensspalten durch, und Lucy fragte sich, ob der Arzt wohl jedem ein Gesicht und ein Krankenblatt zuordnen

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