Die Anstalt
wenn sie es sich nicht hatte anmerken lassen. Aber es entbehrte nicht einer gewissen Logik, wie sie sich eingestehen musste, weil sie nicht recht wusste, wie sie verfahren sollte. Es war, wie sie vermutete, ein Plan, der seine eigene Passion widerspiegelte und nicht einer rationalen Überlegung entsprang.
Doch Lucy verstand sich als Schachspielerin, und ihr fiel kein besserer Eröffnungszug ein. Sie ermahnte sich, ihre Unabhängigkeit und damit die Kontrolle über die Ereignisse zu wahren.
Wie sie so in Gedanken vertieft und mit gesenktem Kopf über das Klinikgelände lief, glaubte sie plötzlich, ihren Namen zu hören.
Ein einziges, langgezogenes, gepfiffenes »Luuuuuuuuuuuuuccccyyyy …«, das mit einer milden Frühlingsbrise zu ihr herüberwehte und sich in den zahlreichen Bäumen auf dem Anstaltsgelände verfing. Sie blieb abrupt stehen und fuhr herum. Auf dem Weg hinter ihr war niemand zu sehen. Sie blickte nach rechts, nach links und nach vorn, während sie angestrengt horchte, doch der Laut war verstummt.
Sie versuchte, sich einzureden, dass sie sich geirrt hatte. Es mochte sich um das halbe Dutzend andere Geräusche handeln, die sie, nervös und angespannt, wie sie war, missverstanden hatte, während es sich in Wahrheit nur um einen gewöhnlichen Schrei handelte, in dem sich die innere Qual eines Patienten entlud und der sich in nichts von dem Gebrüll unterschied, das der Wind tagtäglich hundertfach durch die Welt der Anstalt trug.
Doch dann gestand sie sich ein, dass sie sich etwas vormachte.
Es war ihr Name gewesen.
Sie drehte sich zum nächstgelegenen Gebäude um und starrte zu den Fenstern hoch. Sie sah, wie einige der Insassen ihren Blick vage erwiderten. Langsam drehte sie sich zu anderen Wohnheimen um. Amherst war weit weg. Williams, Princeton und Yale waren näher. Sie wirbelte herum und suchte die teilnahmslosen Ziegelbauten nach irgendwelchen verräterischen Zeichen ab. Doch sämtliche Gebäude schwiegen, als hätte ihre Aufmerksamkeit all die Ängste und Wahnvorstellungen, die so oft geräuschvoll aus den Häusern drangen, abrupt beendet.
Lucy blieb wie angewurzelt stehen. Nach einer Weile hörte sie einen Schwall Obszönitäten aus einem der Gebäude, gefolgt von ärgerlichen Stimmen und ein, zwei schrillen Schreien. Das war das Übliche, womit sie zu rechnen hatte, und mit jedem Laut sagte sie sich, dass sie sich das Ganze nur eingebildet hatte und sich somit allmählich in die Masse der Klinikinsassen einreihte. Sie kehrte sämtlichen Fenstern und Augenpaaren, die aus dem Dunkel jeden ihrer Schritte verfolgten oder auch nur in den azurblauen Himmel oder ins Leere starrten, den Rücken und ging zügig weiter.
17
P eter the Fireman stand mit einem Tablett in der Mitte des Speisesaals und verschaffte sich einen Überblick über das quirlige Treiben, das ihn umgab. Die Mahlzeiten waren in der Anstalt eine endlose Folge kleiner Scharmützel, in denen sich die großen Schlachten spiegelten, die jeder Patient mit sich selbst ausfocht. Kein Frühstück, Mittag-oder Abendessen verging, ohne dass irgendwo ein Streit ausbrach. Ärger gab es ebenso häufig wie dünnflüssiges Rührei oder faden Thunfischsalat.
Rechts von ihm entdeckte er einen älteren, senilen Mann, der manisch grinste und dem die Milch über das Kinn und die Brust lief, obwohl eine Lernschwester ihn fortwährend daran zu hindern suchte, sich zu ertränken; zu seiner Linken war zwischen zwei Frauen wegen einer Schale limonengrünem Wackelpudding ein Streit entbrannt. Wieso es nur eine Schale und zwei Anwärter darauf gab, war ein Dilemma, das Little Black geduldig zu klären versuchte, auch wenn beide Frauen, die mit ihrem wirren, zotteligen grauen Haar und ihrem blassrosa beziehungsweise hellblauen Morgenrock fast gleich aussahen, kurz davor schienen, handgreiflich zu werden. Keine von beiden war offenbar bereit, die zehn, zwanzig Schritte zum Kücheneingang zurückzulaufen und sich eine zweite Schüssel Pudding geben zu lassen. Ihre schrillen, gellenden Stimmen verschmolzen mit dem Geklapper von Geschirr und Besteck und dem schimmernden Dunstschleier, der aus der Küche kam, wo die Mahlzeit zubereitet wurde. Eine Sekunde später rutschte einer der Frauen urplötzlich die Hand aus, und die Puddingschüssel fiel auf den Boden und zerbrach laut klirrend.
Peter ging zu seinem gewohnten Tisch in der Ecke, wo er immer mit dem Rücken zur Wand saß. Napoleon war bereits da, und Peter rechnete damit, dass Francis sich jeden Moment
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