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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Oberarmen und wuchtigen Unterarmen gehörten. Jede vorstehende Ader zeugte von mühsam gebändigter Kraft.
    »Stimmt was nicht?«, fragte Lucy.
    Der Mann gab noch einen tiefen Grunzlaut von sich, den Francis keiner ihm geläufigen Sprache zuordnen konnte, an deren Klang er sich aber im Tagesraum allmählich gewöhnt hatte. Es war ein Tierlaut, der etwas Einfaches wie Hunger oder Durst zum Ausdruck brachte und dem die Schärfe fehlte, die Wut verraten hätte.
    Evans griff nach der Akte, die Lucy vor sich aufgeschlagen hielt, und überflog die Seiten, die darin abgeheftet waren. »Ich glaube, eine Befragung dieser Testperson wird nicht viel bringen«, sagte er mit unverhohlener Selbstzufriedenheit.
    Lucy wirbelte ein wenig verärgert zu Mr. Evil herum. »Und wieso nicht?«
    Er wies auf eine Ecke der Akte. »Die Diagnose lautet auf erhebliche geistige Retardation. Haben Sie das übersehen?«
    »Was ich gesehen habe«, erwiderte Lucy kalt, »ist eine Vorgeschichte von Gewalttaten gegenüber Frauen. Einschließlich eines Vorfalls, bei dem er bei einem sexuellen Übergriff gegenüber einem wesentlich jüngeren Kind unterbrochen wurde, und einem zweiten Vorfall, bei dem er so zugeschlagen hat, dass die Frau ins Krankenhaus eingeliefert werden musste.«
    Evans sah noch einmal auf die Akte. Er nickte. »Ja, ja«, sagte er hastig. »Das sehe ich auch. Aber was in einer Akte steht, gibt oft nicht genau das wieder, was tatsächlich stattgefunden hat. Im Fall dieses Mannes war das junge Mädchen die Nachbarstochter, die oft mit ihm gespielt und ihn geneckt und zweifellos selber Probleme hatte und deren Familie es vorzog, keine Anzeige zu erstatten. Und der andere Fall bezieht sich auf seine eigene Mutter, die er bei einer Auseinandersetzung um eine alltägliche Haushaltsarbeit geschubst hat, so dass sie mit dem Kopf unglücklich an eine Tischkante stieß und ins Krankenhaus musste. Wohl eher ein Moment, in dem er seine Kräfte nicht richtig eingeschätzt hat. Ich glaube außerdem, dass ihm die ausgeprägte kriminelle Intelligenz abgeht, nach der Sie suchen, weil ja wohl – korrigieren Sie mich, wenn ich was falsch verstanden habe – Ihre Theorie zum Mord besagt, dass der Killer von beträchtlicher Cleverness ist.«
    Lucy nahm die Akte wieder an sich und sah zu Big Black auf. »Ich denke, Sie können ihn in sein Wohnheim zurückbringen«, sagte sie. »Mr. Evans hat Recht.«
    Big Black trat vor und fasste den Mann am Ellbogen, um ihn hochzuziehen. Der Mann lächelte, und Lucy sagte: »Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, wovon der Mann kein Wort zu verstehen schien, auch wenn er den Ton in dem sie gesprochen wurden, wohl begriff, denn er grinste und winkte ein wenig, bevor er gehorsam mit Big Black zur Tür hinausging. Das freundliche Lächeln war unerschütterlich.
    Lucy lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und stieß einen Seufzer aus. »Mühselig, das Ganze«, sagte sie.
    »Ich hatte von Anfang an meine Bedenken«, erwiderte Mr. Evans.
    Francis sah, dass Lucy etwas sagen wollte, und in dem Moment hörte er, wie zwei, vielleicht auch drei seiner Stimmen alle auf einmal brüllten,
Sag’s ihr! Mach schon und sag’s ihr!
Und so lehnte er sich auf seinem eigenen Stuhl vor und machte zum ersten Mal seit Stunden den Mund auf.
    »Schon okay, Lucy«, sagte er stockend, dann schneller: »Darum geht es eigentlich gar nicht.«
    Mr. Evans schien augenblicklich wütend darüber, dass Francis überhaupt etwas gesagt hatte, als hätte er ihn unterbrochen, was nicht der Fall war. Lucy drehte sich zu Francis um. »Wie meinen Sie das?«
    »Es geht nicht darum, was sie sagen«, erklärte Francis. »Ich meine, es ergibt keinen großen Sinn, egal, welche Fragen Sie ihnen stellen, zur Mordnacht oder wo sie gewesen sind oder ob sie Short Blond gekannt haben oder ob sie in der Vergangenheit schon mal gewalttätig waren. Egal, welche Fragen Sie ihnen zu dieser Nacht stellen oder auch zu ihrer Person, das ist nicht wirklich entscheidend. Was sie auch sagen, was sie auch hören, ist alles nicht das, worauf Sie wirklich achten sollten.«
    Wie Francis sich hätte denken können, winkte Mr. Evans ab. »Sie meinen, dass nichts von dem, was sie sagen, zählt, C-Bird? Wenn dem so wäre, worin läge dann wohl der Sinn dieser kleinen Übung?«
    Aus Angst, Mr. Evil zu widersprechen, wich Francis ein wenig auf seinem Stuhl zurück. Es gab Menschen, das wusste Francis, die Beleidigungen und Affronts schluckten, um es jemandem dann bei späterer

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