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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Decke, und wieder andere machten Strangulierungsbewegungen mit den Händen. Manche sahen sich die Fotos von den Leichen voller Entsetzen an, andere mit irritierender Faszination. Ein Mann bekannte sich augenblicklich zu der Tat: »Ich war’s, ich war’s«, immer und immer wieder, so dass Lucy keine Gelegenheit hatte, ihn nach ein paar Dingen zu fragen, die geklärt hätten, ob er wirklich der Täter war. Ein Mann sagte nichts, sondern grinste nur und schob sich die Hand in die Hose, um sich zu erregen, bis der ausgesprochen entmutigende Druck von Big Blacks kräftigem Griff auf seiner Schulter ihn zwang, damit aufzuhören. Die ganze Zeit über saß Mr. Evil an ihrer Seite und hatte jedes Mal, kaum dass der Patient zur Tür hinaus war, eine Erklärung dafür parat, wieso dieser oder jener Mann es aus diesem oder jenem Grund nicht gewesen sein konnte. Seine Argumente waren nicht ganz von der Hand zu weisen und nachvollziehbar; sie sollten helfen und Informationen liefern, während sie in Wahrheit nur hinderlich waren und Verwirrung stifteten. Ich kam zu dem Schluss, dass Mr. Evil nicht annähernd so gescheit war, wie er selbst dachte, noch so dumm, wie einige von uns glaubten. Eine, wenn ich daran zurückdenke, überaus gefährliche Kombination.
    Und im Verlauf der vielen Befragungen geschah etwas äußerst Seltsames mit mir: Ich fing an zu sehen. Mir war, als hätte ich deutlich vor Augen, wo jeder Schmerz seinen Ursprung hatte und wie all die angesammelten Schmerzen sich über die Jahre zum Wahnsinn verdichtet hatten.
    Ich fühlte, wie mich Dunkelheit erfasste.
    Jede Faser in mir schrie danach, aufzuspringen und aus dem Zimmer zu rennen, weil alles, was ich sah und hörte, schrecklich war. Ein Wissen, das mir nicht zustand, das ich nicht brauchte, das ich nicht speichern wollte. Doch ich rührte mich nicht vom Fleck, fühlte mich wie erstarrt.
    Ich war in solchen Momenten von der gleichen Angst vor mir selbst erfüllt wie vor den harten Männern, die durch die Tür hereinkamen und die alle etwas Schreckliches getan hatten.
    Ich war nicht wie sie und war es doch.
    Als Peter the Fireman das erste Mal aus dem Amherst-Gebäude trat, war er beinahe überwältigt, und er musste sich am Geländer festhalten, um nicht zu stolpern. Strahlender Sonnenschein blendete ihn, eine warme Spätfrühlingsbrise zauste ihm das Haar, der Duft des Hibiskus, der am Rand der Gehwege blühte, stieg ihm in die Nase. Er blieb unsicher auf der obersten Stufe der Treppe stehen, die zur Seitentür führte – ein wenig trunken oder schwindelig, als hätte er sich innerhalb des Gebäudes wochenlang im Kreis gedreht und stünde zum ersten Mal still. Er hörte den Verkehr von der Straße hinter den Klinikmauern und sah seitlich von ihm im Vorgarten eines der Personalwohnhäuser Kinder spielen. Er horchte aufmerksam und hörte, wie irgendwo hinter den glücklichen Stimmen ein Radio spielte. Motown-Sound, dachte er. Etwas mit einem eingängig starken Beat und sirenenhaften Harmonien beim Refrain.
    Peter wurde von Little Black und seinem stämmigen Bruder flankiert, doch der kleinere der beiden Pfleger flüsterte ihm warnend zu: »Peter, Sie müssen den Kopf gesenkt halten. Sorgen Sie dafür, dass Sie niemand zu Gesicht bekommt.«
    Der Fireman trug wie die beiden Pfleger eine weiße Segeltuchhose und einen kurzen Laborkittel, auch wenn sie – im Unterschied zu seinen hohen leinenen Basketballschuhen – vorschriftsmäßige feste schwarze Schuhe an den Füßen hatten, eine Besonderheit, an der ihn jemand mit einem Blick für die Farce sofort erkannt hätte. Er nickte und beugte sich ein wenig vor, doch es fiel ihm schwer, allzu lange auf den Boden zu starren. Es war zu viele Wochen her, seit er das letzte Mal draußen gewesen war, und noch länger, seit er irgendwo entlanggelaufen war, ohne von Handschellen und seiner Vergangenheit eingeschnürt worden zu sein.
    Rechter Hand sah er eine kleine bunt gemischte Gruppe Patienten bei der Gartenarbeit und drüben auf dem verrotteten, schwarz geteerten, ehemaligen Basketballplatz ein halbes Dutzend anderer Patienten, die einfach um die Überreste des Volleyballnetzes herumwanderten, während zwei weitere Pfleger rauchten und die schlurfenden Männer, die fast alle das Gesicht der warmen Nachmittagssonne entgegenstreckten, einigermaßen im Blick behielten. Eine drahtige Frau im mittleren Alter tanzte, indem sie mit den Armen weite Kreise beschrieb und erst nach rechts und dann nach links ausschritt, einen

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