Die Anstalt
Walzer ohne Rhythmus und ohne Sinn und Zweck, doch so graziös wie an einem Königshof der Renaissance.
Sie hatten sich vorab auf eine systematische Arbeitsweise verständigt. Little Black hatte per Sprechanlage bei den anderen Hausverwaltungen angerufen, und sie würden das Gebäude jeweils durch den Nebeneingang betreten. Während dann Big Black die Testperson von Lucys Liste zum Amherst-Bau brachte, würden Peter und Little Black den Wohnbereich des Mannes filzen. Dies führte schon bald zu einer Aufgabenteilung, bei der Little Black Wache schob, falls irgendeine Schwester oder ein Pfleger im Anmarsch war und neugierig wurde, während Peter sich rasch durch die bescheidene Sammlung an Habseligkeiten wühlte, die der fragliche Mann besaß. Er war sehr gut darin, sich äußerst flink durch Kleider und Papiere und Bettzeug durchzuarbeiten und dabei alles nahezu so zu hinterlassen, wie er es vorgefunden hatte. Es war, das hatte er schon bei den ersten Durchsuchungen in seinem eigenen Gebäude begriffen, unmöglich, das, was er tat, vor allen geheim zu halten: Immer lauerte irgendein Patient in der Ecke oder hockte auf seinem Bett oder stand einfach an der gegenüberliegenden Wand, wo er ungestraft aus dem Fenster sehen oder den Raum überblicken konnte, ohne dass ihm von hinten Gefahr drohte. In der Klinik kannte die Paranoia keine Grenzen. Das Problem war nur, dass ein Mann, der sich in einer Nervenheilanstalt verdächtig benahm, nicht dasselbe war, wie einer, der das in der realen Welt draußen tat. Innerhalb des Western State Hospital war Paranoia die Regel und als solche ein allgemein akzeptierter Bestandteil des Klinikalltags, so selbstverständlich und vorhersehbar wie die Mahlzeiten, die Prügeleien und die Tränen.
Big Black sah, wie Peter in die Sonne schaute, und er lächelte. »An so ’nem schönen Tag«, sagte er ruhig, »könnte man glatt alles vergessen, stimmt’s?«
Peter nickte.
»An so ’nem schönen Tag«, fuhr der Große fort, »ist es einfach nicht fair, krank zu sein.«
Überraschenderweise schaltete sich Little Black ein. »Wissen Sie, Peter, eigentlich macht ein Tag wie dieser hier drinnen alles nur noch schlimmer. Jeder bekommt einen Geschmack davon, was ihm entgeht. Man riecht, wie die Welt da draußen weitergeht, als wäre sie direkt da hinter den Mauern. An ’nem kalten Tag dagegen, bei Wind und Wetter, da stehen alle einfach nur auf und bringen den Tag irgendwie rum. Kriegen es gar nicht richtig mit. Aber so’n schöner Tag macht es so ziemlich jedem schwer.«
Peter antwortete nicht, bis Big Black hinzufügte: »Wirklich schwer für Ihren kleinen Freund. C-Bird hat noch Hoffnungen und Träume. Für Leute wie ihn ist so ein Tag am schlimmsten, weil sie dann sehen, wie weit weg das alles für sie ist.«
»Er wird rauskommen«, sagte Peter. »Und zwar bald. Die können doch nicht allzu viel gegen ihn in der Hand haben.«
Big Black seufzte. »Ich wünschte, Sie hätten Recht. C-Bird, der hat ’ne Menge Ärger am Hals.«
»Francis?«, fragte Peter ungläubig. »Aber er ist harmlos. Das sieht doch jeder Idiot. Ich meine, er hat hier vermutlich überhaupt nichts zu suchen …«
Little Black schüttelte den Kopf, als wollte er damit andeuten, dass Peter weder mit dem, was er sagte, richtig lag, noch sehen konnte, was sie sahen.
Doch er erwiderte nichts. Peter warf einen verstohlenen Blick auf den Haupteingang der Heilanstalt, mit seinem riesigen schmiedeeisernen Tor und der soliden Backsteinmauer. Im Gefängnis, überlegte er, war man immer auf Zeit eingesperrt. Die Tat bestimmte die Dauer. Es konnten ein oder auch zwei Jahre sein oder zwanzig oder dreißig, aber immer war es eine begrenzte Frist, selbst für die Lebenslänglichen, weil auch deren Gefangenschaft in Tagen, Wochen und Monaten gemessen wurde und irgendwann unausweichlich ein Gremium über ein Gnadengesuch zu befinden hatte oder einen der Tod erwartete. Für die Nervenheilanstalt galt das nicht, weil der Aufenthalt dort von Prozessen abhängig war, die weitaus schwieriger nachvollziehbar und noch schwieriger in Gang zu setzen waren.
Big Black schien Peters Gedanken zu erraten, denn er schaltete sich wieder ein, und seine Stimme hatte immer noch diesen traurigen Unterton. »Selbst wenn er es schafft, eine Entlassungsverhandlung zu kriegen, hat er noch ’nen weiten Weg vor sich, bis sie ihn tatsächlich rauslassen.«
»Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn«, sagte Peter. »Francis ist ein gescheiter Bursche und kann
Weitere Kostenlose Bücher