Die Anstalt
Kind zum ersten Mal Stimmen hörte, bestand darin, diejenige herauszuhören, die in der Symphonie der Disharmonien in seinem Kopf am meisten Sinn ergab. Er hatte gelernt, dass der Grad seiner Geisteskrankheit sich danach richtete, inwieweit er fähig war, bei dem, was da auf ihn einströmte, Ordnung zu schaffen und sich so gut wie möglich zurechtzufinden. Auch wenn es vielleicht nicht logisch klang, so hatte die Fähigkeit, die er sich erworben hatte, doch ihren praktischen Nutzen.
Er sagte sich, dass die Situation in der Anstalt durchaus Ähnlichkeit damit besaß. Ein Ermittler, dachte er, breitet viele zusammenhangslose Indizien vor sich aus und fügt sie Stück für Stück zu einem stimmigen Ganzen zusammen. Er neigte zu der Auffassung, dass alles, was er brauchte, um sich nach und nach ein Bild vom Engel zu machen, bereits stattgefunden hatte, nur dass ihnen in der sprunghaften Welt der Nervenheilanstalt der innere Zusammenhang verborgen blieb.
Francis sah zu Peter hinüber, der sich über einem Waschbecken kaltes Wasser ins Gesicht spritzte
. Er wird nie sehen, was ich sehen kann,
sagte sich Francis. Ein Chor in seinem Kopf stimmte ihm zu.
Doch bevor er den Gedanken weiterspinnen konnte, sah er, wie Peter sich vom Waschbecken löste und sein Spiegelbild betrachtete. Zugleich sah Peter, wie Francis hinter ihm stand, und er lächelte. »Ah, C-Bird, einen wunderschönen guten Morgen. Wir haben wieder eine Nacht hier drinnen überlebt, und das ist, wenn man’s genau bedenkt, keine Selbstverständlichkeit und sollte mit einem kräftigen, wenn auch nicht allzu schmackhaften Frühstück gefeiert werden. Was, meinst du, wird dieser schöne Tag uns bringen?«
Francis schüttelte den Kopf, um klar zu machen, dass er sich nicht sicher war.
»Vielleicht den einen oder anderen Fortschritt?«
»Vielleicht.«
»Oder etwas Gutes?«
»Wohl kaum.«
Peter lachte. »Francis, Kumpel, die Pille oder Spritze muss wohl noch erfunden werden, die einem hier drinnen den Zynismus austreibt.«
Francis nickte. »Und auch die, von der man optimistisch wird.«
»Eins zu null für dich«, sagte Peter. Das Grinsen in seinem Gesicht verflog, und er beugte sich zu Francis hinüber. »Heute kommen wir ein Stückchen voran, ich versprech’s dir.« Dann lächelte er wieder und fügte hinzu: »Betonung auf
Stückchen
. Das soll ein kleiner Scherz sein. Du wirst bald merken, worauf ich hinauswill.«
Francis hatte keine Ahnung, wovon die Rede war, fragte jedoch: »Wie kannst du das versprechen?«
»Weil Lucy meint, eine neue Strategie könnte funktionieren.«
»Eine neue Strategie?«
Peter sah sich einen Moment um und flüsterte: »Wenn du nicht an den Mann rankommst, den du jagst, musst du den Mann zu dir locken.«
Francis zuckte ein wenig zurück, als trommelten Dutzende von Stimmen, die sich augenblicklich in seinem Kopf erhoben und
Vorsicht
brüllten, auf ihn ein. Peter bekam von den bedrohlichen Gewitterwolken nichts mit, die Francis’ Gesicht verdüsterten, als er sich dessen Worte durch den Kopf gehen ließ. Stattdessen klopfte Peter Francis auf den Rücken und fügte süffisant hinzu: »Komm schon. Auf zu den schwammigen Pfannkuchen und den dünnflüssigen Eiern. Dann sehen wir mal, wie es weitergeht. Großer Tag heute, denke ich, C-Bird. Halt die Ohren steif.«
Sie verließen den Waschraum und gesellten sich zu den Männern, die aus dem Schlafsaal in den Flur hinausströmten. Der Beginn der täglichen Tretmühle. Francis hatte keine Ahnung, wonach er Ausschau halten sollte, doch in dem Moment bereitete ein gellender, schriller und entsetzter Schrei, der wild den Flur entlanghallte und in seiner völligen Hilflosigkeit jeden, der ihn hörte, bis ins Mark erschütterte, seinen Überlegungen ein jähes Ende.
Es ist leicht, sich an diesen Schrei zu erinnern.
Ich habe viele Jahre lang immer wieder daran denken müssen. Es gibt Angstschreie, Entsetzensschreie, Schreie, die untergründige Furcht oder Spannung oder sogar Verzweiflung ausdrücken.
In diesem Schrei schienen sich alle diese Emotionen auf einmal zu entladen, so dass etwas so Hoffnungsloses und Schreckliches im Raum hing, dass es jeder Vernunft und jedem Trost spottete und von all den Schrecken der Heilanstalt zusätzlich verstärkt wurde. Der Schrei einer Mutter angesichts der Gefahr, in die ihr Kind gerät. Der Schmerzensschrei eines Soldaten beim Anblick seiner Wunde, die, wie er weiß, seinen Tod bedeutet. Etwas Archaisches und Animalisches, das nur in den
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