Die Anstalt
Erniedrigung nur zwei Worte ins Ohr geflüstert:
Denk daran
.
Die Worte hatten sie tiefer verletzt als der Schnitt.
Und sie dachte daran, allerdings kaum auf die Art und Weise, wie ihr Peiniger es erwartet hatte.
Wenn sie schon nicht den Mann hinter Gitter bringen konnte, der ihr die Verletzung zugefügt hatte, dann wenigstens Dutzende Männer seines Schlags. Wenn es etwas zu bedauern gab, dann wohl, dass er ihr den letzten Rest an Unschuld und Unbekümmertheit genommen hatte. Lachen fiel ihr seitdem viel schwerer, und Liebe schien außer Reichweite. Doch oft sagte sie sich einfach, dass sie beides früher oder später ohnehin eingebüßt hätte. In ihrer Jagd auf das Böse führte sie ein geradezu mönchisches Dasein.
Sie starrte in den Spiegel und steckte nach und nach sämtliche Erinnerungen in die Schubfächer zurück, in denen sie sie fein säuberlich abgelegt hatte. Was damals geschehen war, das war vorbei, sagte sie sich. Sie wusste, dass der Mann, den sie in der Anstalt jagte, demjenigen, der sie durch ihr ganzes Leben verfolgte, so ähnlich war wie noch keiner, den sie im Gerichtssaal eingeschüchtert hatte. Wenn sie den Engel fand, dachte sie, dann wäre damit weit mehr erreicht, als einen Serienkiller an einem weiteren Mord zu hindern.
Sie fühlte sich ein bisschen wie eine Athletin, die sich auf den einen entscheidenden Moment konzentriert.
»Für eine Falle«, sagte sie, als wäre sie nicht allein, »für eine Falle braucht man einen Köder.«
Sie strich sich mit der Hand durch das dichte, lange schwarze Haar, das ihr Gesicht einrahmte, und ließ es sich wie Regentropfen durch die Finger gleiten.
Kurzes Haar.
Blondes Haar.
Alle vier Opfer hatten auffällig kurz geschnittenes Haar gehabt. Sie hatten alle in etwa den gleichen Körperbau gehabt. Sie waren alle auf dieselbe Art und Weise getötet worden, indem ihnen mit der Mordwaffe von links nach rechts die Kehle aufgeschlitzt wurde. Auch die Verstümmelungen an den Händen nach Eintritt des Todes waren die gleichen gewesen. Dann waren ihre Leichen in jeweils gleicher Umgebung zurückgeblieben. Selbst beim letzten Opfer hier in der Klinik erkannte sie, wenn sie an die Abstellkammer dachte, in der die Lernschwester ihre letzten Sekunden erlebt hatte, dass der Killer die früheren Tatorte auf dem Land, in Wald und Flur sozusagen, nachgeahmt hatte. Und er hatte, nicht zu vergessen, mit Wasser und Reinigungsflüssigkeiten systematisch seine Spuren verwischt, so wie es bei den ersten drei Morden die Natur für ihn erledigt hatte.
Er war hier, das wusste sie. Sie hegte sogar den Verdacht, dass sie ihm irgendwann, seit sie in der Anstalt war, schon einmal direkt in die Augen gesehen hatte, ohne zu wissen, dass er es war. Bei dem Gedanken lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter, vergrößerte sich aber auch ihre angestaute Wut.
Sie starrte auf die schwarzen Strähnen, die sie wie Spinnweben zwischen den Fingern hielt.
Ein kleines Opfer, dachte sie.
Sie drehte sich abrupt um und lief zum Bett. Als Erstes holte sie einen kleinen schwarzen Koffer darunter hervor. Er hatte ein Zahlenschloss, das sie einstellte, um ihn zu öffnen. Innen gab es eine Tasche mit Reißverschluss, und auch diese machte sie auf, um ein dunkelbraunes Lederhalfter mit einem kurzläufigen Revolver Kaliber 38 herauszuholen. Für einen Moment hielt sie die Waffe in der Hand und fühlte ihr Gewicht. Die wenigen Gelegenheiten in all den Jahren, seit sie die Waffe besaß, bei denen sie damit tatsächlich geschossen hatte, konnte sie an den Fingern einer Hand abzählen, und so lag sie ihr zwar ungewohnt, aber nicht minder treffsicher in der Hand. Dann raffte sie mit einer einzigen, entschlossenen Bewegung die übrigen Gegenstände auf ihrer Tagesdecke zusammen: eine Haarbürste, eine Schere, eine Packung Färbemittel.
Ihr Haar würde mit der Zeit nachwachsen, sagte sie sich.
Und die glänzende schwarze Pracht, die sie ihr ganzes Leben lang an sich gekannt hatte, wäre in nicht allzu langer Zeit wiederhergestellt.
Sie sagte sich noch einmal, dass die Wirkung, die sie bezweckte, nicht von Dauer war, jedes Versäumnis bei ihrer Jagd auf den Engel dagegen sehr wohl irreparable Folgen haben konnte, nahm die Sachen mit ins Badezimmer und legte sie vor sich auf eine schmale Ablage. Dann hob sie die Schere und wunderte sich fast, dass sie kein Blut fließen sah, als sie an ihren Haaren herumzuschneiden begann.
Einer der Tricks, den Francis in all den Jahren gelernt hatte, seit er als
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