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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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seltensten und fürchterlichsten Momenten durchbricht. Es war, als wäre etwas, das die Dinge im Innersten zusammenhielt, plötzlich weggebrochen, und das war einfach nicht mehr zu ertragen.
    Ich habe nie erfahren, wer diesen Schrei ausstieß, doch er nistete sich in allen ein, die ihn hörten, und war nicht mehr wegzudenken, egal, wie viel Zeit verstrich.
    Ich drängte direkt hinter Peter hinaus, der seinerseits so schnell wie möglich in die Richtung lief, aus der der Schrei gekommen war. Nur am Rande nahm ich ein paar der anderen Patienten wahr, die sich wegduckten oder an die Wände pressten. Ich sah, wie sich Napoleon in eine Ecke kauerte und Newsman, auf einmal gar nicht neugierig, sich auf den Boden hockte, als könnte er sich so vor dem durchdringenden Geräusch abschirmen. Peters Schritte hallten durch den Korridor und beschleunigten sich, je näher er der Quelle des Schreis kam. Ich erhaschte nur einen ganz kurzen Blick auf sein Gesicht, das eine Härte und Klarheit ausdrückte, die man in der Anstalt sonst nicht kannte. Es war, als hätte dieser Schrei eine unermessliche Sorge in ihm ausgelöst, und er versuchte, sich all die Ängste vom Leib zu halten, die ihn bestürmten.
    Der Schrei war vom entgegengesetzten Ende des Flurs gekommen, jenseits der Tür zum Frauenschlafsaal. Doch die Erinnerung daran war so real wie an jenem Morgen im Amherst-Wohnheim. Er kreiste um mich wie die Rauchschwaden eines Feuers, und ich nahm meinen Stift und kritzelte wild entschlossen an die Wand in meinem Apartment, denn ich fürchtete, dass es jeden Moment vom Hohngelächter des Engels übertönt würde, und ich musste es niederschreiben, bevor es dazu kam. In meiner Vorstellung sah ich Peter voranpreschen, so als versuchte er, schneller zu sein als der Klang.
    Wie Peter durch den Flur des Amherst rannte, wusste er, dass es nichts anderes auf der Welt gab, das bei einem Menschen, selbst einem verrückten, eine solche Verzweiflung auslöste wie der Tod. Er schlängelte sich um die anderen Patienten herum, die, der Panik nahe, vor dem unheilvollen Laut die Flucht ergriffen. Selbst die Katos und die Retardierten, die sonst die ganze Welt mit Nichtbeachtung straften, drückten sich an die Wände oder versuchten, sich zu verstecken. Ein Mann wiegte sich, in der Hocke sitzend, vor und zurück, während er sich die Ohren zuhielt. Peter hörte den traurigen Trommelschlag seiner eigenen Schritte auf dem Bodenbelag, und er begriff, dass ihn etwas in seinem Innern immer zum Ort des Sterbens drängte.
    Francis, der dicht hinter ihm folgte, ließ sich von Peters ungebremster Eile mitreißen, so dass er dem Drang widerstehen konnte, in die entgegengesetzte Richtung wegzulaufen. Er hörte, wie Big Black Anweisungen brüllte: »Zurücktreten bitte! Zurück! Lassen Sie uns durch!«, und dann sah er den Pfleger auch schon mit seinem Bruder herüberrennen. Eine Schwester in weißer Uniform kam hinter dem Drahtgitter der Pflegestation hervor. Sie hieß Schwester Richards, wurde aber natürlich Schwester Riches genannt, doch mit dem ungewohnten Schrecken und Entsetzen in ihren Augen wurde sie ihrem eleganten Spitznamen nicht gerecht.
    Am Eingang zum Schlafsaal der Frauen wiegte sich eine Insassin mit zerzaustem grauen Haar heftig hin und her und sang dazu ein Klagelied. Eine andere drehte sich unentwegt im Kreis. Eine dritte hatte die Stirn an die Wand gedrückt und murmelte etwas, das Francis nach einer Fremdsprache klang, aber auch nur unverständliches Gestammel sein mochte – unmöglich zu sagen. Zwei andere hatten sich flach auf den Boden geworfen, zuckten und stöhnten, heulten und schluchzten, als wären sie vom Teufel besessen. Es war auch unmöglich, zu sagen, ob eine dieser Frauen den Schrei ausgestoßen hatte. Es konnte eine von ihnen gewesen sein oder auch jemand anders, den er nicht gesehen hatte. In jedem Fall lag ihnen allen der Klang der Verzweiflung noch in den Ohren und trieb ihn und Peter wie eine Sirene magisch vorwärts. In seinem Innern versuchten die Stimmen, Francis zu warnen, ihn zur Umkehr zu bewegen, und es kostete ihn physische Überwindung, sie zu ignorieren und mit Peter Schritt zu halten, als wären die Vernunft und der Sachverstand von Fireman eine tragfähige Grundlage für sie beide.
    Nur eine Sekunde lang blieb Peter an der Schlafsaaltür stehen, um die zerzauste Frau mit energischer, gebieterischer Stimme zu fragen: »Wo?«
    Die Frau zeigte stumm am Ende des Flurs auf das Treppenhaus hinter den eigentlich

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