Die Anstalt
Nachmittag eingekauft hatte, doch statt sie sich genauer anzusehen, starrte sie nun schon seit Stunden ins Leere. Als sie aufstand, ging sie in das kleine Badezimmer, wo sie sorgsam ihr Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken überprüfte.
Mit einer Hand hielt sie sich das Haar aus der Stirn und mit der anderen folgte sie dem Verlauf der Narbe, die direkt am Haaransatz begann, dann die Braue spaltete und dann leicht zur Seite abrutschte, so dass sie den Augapfel knapp verfehlte, und von dort aus über die Wange bis zum Kinn hinunterführte. Da, wo die Haut zusammengewachen war, hatte sie eine etwas hellere Farbe als ihr übriges Gesicht. An ein paar Stellen war der Schnitt kaum noch zu sehen, an anderen fiel er schmerzlich auf. Sie glaubte, dass sie inzwischen seltsam vertraut mit der Narbe war, und akzeptierte sie als das, wofür sie stand. Vor einigen Jahren einmal hatte ihr ein allzu selbstsicherer junger Arzt versprochen, sie mit einem berühmten Schönheitschirurgen bekannt zu machen, der, wie er beteuerte, ihr Gesicht so wiederherstellen könne, dass niemand sehen würde, dass es aufgeschlitzt worden war. Sie hatte weder mit dem Chirurgen Kontakt aufgenommen noch ein zweites Mal den Arzt aufgesucht.
Lucy zählte sich zu den Menschen, die ihre Existenz täglich neu definieren. Der Mann, der ihr Gesicht verletzt und ihr für immer die Privatsphäre gestohlen hatte, dieser Mann hatte gedacht, er fügte ihr Schaden zu, wohingegen er ihr in Wahrheit eine Aufgabe und ein Ziel gegeben hatte. Was dieser eine Mann ihr eines Nachts während ihres Jurastudiums angetan hatte, das hatte seither viele Männer hinter Schloss und Riegel gebracht. Sie sagte sich, dass es eine ganze Weile dauern würde, bis die Schuld – das Verbrechen an ihren Gefühlen und ihrem Körper – vollständig abgegolten war. Einzelne Momente von großer Tragweite gaben einem Leben die Richtung an. In der Anstalt beunruhigte sie die Erkenntnis, dass die Patienten dort nicht von einem herausragenden Geschehen in bestimmte Bahnen gelenkt worden waren, sondern von einer Anhäufung winzig kleiner Ereignisse, die sie in ihrer Summe in die Depression oder Schizophrenie oder Psychose oder Persönlichkeitsspaltung oder in zwangsneurotisches Verhalten getrieben hatten. Peter, begriff sie, stand ihr mit seiner Denk-und Wesensart viel näher. Auch er hatte es zugelassen, dass ein einziges Ereignis sein ganzes weiteres Leben prägte. Natürlich war es bei ihm ein unbedachter Impuls gewesen. Selbst wenn es Dinge gab, die seine Tat rechtfertigten, so war es dennoch das Ergebnis eines momentanen Kontrollverlusts. Ihre Antriebsfeder dagegen war viel kühler, viel kalkulierter und ließ sich mangels eines moderneren Begriffs mit dem Wort Rache umschreiben.
Ihr kam eine plötzliche, schlimme Erinnerung, die Art, die sich ungebeten in die Gedanken schleicht und einem fast die Luft abschnürt: Im Massachusetts General Hospital, in das man sie gebracht hatte, nachdem zwei junge Physikstudenten auf dem Heimweg vom Labor sie schluchzend und blutend ziellos über einen Platz zwischen Universitätsgebäuden irren sahen, hatte die Polizei sie eingehend befragt, während eine Schwester und ein Arzt die Untersuchung nach der Vergewaltigung durchführten. Die Detectives hatten neben ihrem Kopf gestanden, während der Arzt und seine Helferin in einem vollkommen anderen Bereich unterhalb ihrer Taille arbeiteten.
Haben Sie den Mann gesehen?
Nein. Nicht richtig. Er trug eine enge Skimaske, und alles, was ich sehen konnte, waren seine Augen.
Würden sie ihn wiedererkennen?
Nein
. Wieso sind Sie nachts allein über den Campus gelaufen?
Ich weiß nicht. Ich hatte noch in der Bibliothek gearbeitet, und es wurde Zeit, heimzugehen.
Was können Sie uns sagen, das uns bei der Ergreifung des Täters hilft?
Schweigen.
Von all den Schrecken, die ihr in jener Nacht widerfahren waren, war, wie sie dachte, das zweifellos nachhaltigste Zeichen die Narbe in ihrem Gesicht. Sie war beinahe ins Wachkoma gefallen, ihr Bewusstsein hatte sich von ihrem Körper zurückgezogen, von den Sinnen abgekoppelt, und in dem Moment hatte er sie geschnitten. Er brachte sie nicht um – das wäre zu einfach gewesen – auch bestand keine nachvollziehbare Notwendigkeit, noch etwas zu tun. Sie war fast bewusstlos, so dass er reichlich Gelegenheit gehabt hätte, unerkannt zu fliehen. Stattdessen hatte er sich vorgebeugt, sie für immer gezeichnet und ihr dann durch den Nebelschleier der Schmerzen und der
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