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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Zeigestock an die Wandtafel hämmert, um die Aufmerksamkeit seiner begriffsstutzigen Schüler zu erringen. Francis verfolgte alles und speicherte es wie der Gehilfe eines Fotografen in seinem Gedächtnis ab.
    Am längsten zeigte Peter auf Short Blonds ausgestreckte Hand. Francis sah auf einmal, dass die Spitzen von vier Fingern augenscheinlich fehlten, als hätte sie jemand abgeschnitten und entfernt. Er starrte auf die Verstümmelung und merkte, wie er in kurzen, krampfartigen Zügen atmete.
    »Was siehst du, C-Bird?«, fragte Peter schließlich.
    Francis starrte auf die Tote. »Ich sehe Short Blond«, sagte er. »Der arme Lanky. Der arme, arme Lanky. Er muss wirklich gedacht haben, er hätte das Böse ausgelöscht.«
    »Du meinst, das war Lanky?«, fragte Peter und schüttelte den Kopf. »Sieh genauer hin«, wiederholte Peter the Fireman. »Und dann sag mir, was du siehst.«
    Francis starrte wie hypnotisiert auf die Leiche am Boden. Beim Gesicht der Frau blieb er haften und war beinahe überwältigt von einer Mischung aus Angst, Aufregung und einer diffusen Leere. Ihm wurde bewusst, dass er noch nie einen Toten gesehen hatte, jedenfalls nicht aus der Nähe. Zwar erinnerte er sich, wie er als Kind auf die Beerdigung einer Großtante gegangen war und wie seine Mutter ihn fest bei der Hand genommen hatte, um ihn an dem offenen Sarg vorbeizumanövrieren, während sie ihm unentwegt zuflüsterte, er solle nichts sagen und nichts tun und sich nur anständig benehmen, denn sie hatte irgendwie Angst, Francis würde durch irgendein unangemessenes Verhalten die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Doch das hatte er nicht getan, noch hatte er die aufgebahrte Großtante sehen können. Das Einzige, woran er sich erinnerte, war dieses weiße Porzellanprofil, von dem er, während er vorbeigezerrt wurde, nur einen flüchtigen Blick erhaschte wie von etwas, das man bei rasender Fahrt durch das Autofenster sieht. Dies hier war nicht dasselbe. Was er von Short Blond sah, war ganz anders. Es war, wie ihm klar wurde, das allerschlimmste Sterben. »Ich sehe den Tod«, hauchte Francis.
    Peter the Fireman nickte. »Allerdings«, sagte er. »Den Tod. Und einen entsetzlichen noch dazu. Aber weißt du, was ich noch sehe?« Er sprach langsam, als ob er innerlich jedes Wort auf die Waagschale legte.
    »Was?«, fragte Francis neugierig.
    »Ich sehe eine Botschaft«, antwortete Fireman.
    Dann fügte er in einem vernichtend traurigen Ton hinzu, »Und, Francis, das Böse wurde nicht ausgelöscht. Es ist direkt hier unter uns und so lebendig wie du und ich.« Dann trat er in den Flur zurück und fügte ruhig hinzu: »Und jetzt müssen wir Hilfe holen.«

6
    Manchmal träume ich von dem, was ich gesehen habe. Manchmal wird mir dann bewusst, dass ich nicht mehr träume, sondern hellwach bin und es sich um eine Erinnerung handelt, die wie ein Fossil aus meiner Vergangenheit mit allen dreidimensionalen Linien in mein Gedächtnis eingeschlossen ist. Vor meinem geistigen Auge sehe ich Short Blond immer noch wie ein gerahmtes Bild vor mir liegen, wie auf einem dieser Fotos, die noch in derselben Nacht von der Polizei gemacht wurden. Doch ich gehe davon aus, dass die Polizeifotos nicht annähernd so präzise waren wie das Bild in meinem Kopf. Ich habe ihre Gestalt ein wenig wie das Gemälde eines zweitrangigen Renaissance-Malers im Blick, eine lebhafte, wenn auch journalistisch nicht ganz korrekte Vision vom Märtyrertod einer Heiligen.
    Folgendes ist mir in Erinnerung geblieben … Ihre Haut war weiß wie Porzellan und vollkommen rein, ihr Gesicht drückte eine selige Ruhe aus. Hätte nur noch ein leuchtender Heiligenschein um ihren Kopf gefehlt. Der Tod kaum mehr als eine Unannehmlichkeit auf dem unausweichlichen, köstlichen, glorreichen Weg in den Himmel. Natürlich war es in Wirklichkeit (ein Wort, das ich nur noch möglichst selten benutze) nichts dergleichen. Ihre Haut war vom herausquellenden Blut verschmiert, ihre Kleider zerrissen, der Schlitz in ihrer Kehle klaffte wie ein spöttisches Grinsen, und ihr Gesicht war fassungslos verzerrt, ihre Augen vor Schock geweitet. Eine Fratze des Todes. Die schlimmste Art von Mord. Als ich in jener Nacht aus der Abstellkammer auf den Flur zurücktrat, packten mich eine Reihe verstörender Ängste. Einem Akt der Gewalt so nahe zu kommen fühlte sich an, als würde einem plötzlich das Herz mit Schmirgelpapier abgerieben.
    Zu ihren Lebzeiten hatte ich sie kaum gekannt. Tot sollte ich sie viel besser kennen

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