Die Anstalt
Familie«, sagte er. »Meine Töchter sind auch Zwillinge.«
Lucy sah sich um, konnte aber kein Foto entdecken. Er sah ihren forschenden Blick und fügte hinzu: »Sie leben bei ihrer Mutter. Sagen wir einfach, wir machen eine etwas schwierige Phase durch.«
»Tut mir leid für Sie«, sagte sie und verkniff sich die Bemerkung, dass das nicht erklärte, wieso er kein Foto von ihnen an der Wand hatte.
Er zuckte die Schultern und knallte die Akten vor ihr auf den Schreibtisch. Sie schlugen dumpf auf.
»Wenn man als Zwilling groß wird, gewöhnt man sich an sämtliche Witze. Es sind immer dieselben, wissen Sie. Gleichen sich wie ein Ei dem andern. Woran kann man die unterscheiden? Denkt ihr zwei denn auch dasselbe? Wenn Sie in dem Bewusstsein aufwachsen, dass in dem Hochbett über Ihnen Ihr genauer Abklatsch liegt, dann prägt das Ihre Sicht der Dinge, Miss Jones, im guten wie im schlechten Sinn.«
»Sind Sie eineiige Zwillinge?«, fragte sie, letztlich nur, um das Gespräch in Gang zu halten, denn ein einziger Blick auf das Bild beantwortete die Frage.
Mr. Evans zögerte. Er kniff die Augen zusammen, und seine Worte nahmen einen eisigen Ton an. »Waren wir einmal. Jetzt nicht mehr.«
Sie sah ihn verständnislos an.
Evans hüstelte und fügte dann hinzu: »Wie wär’s, wenn Sie Ihren neuen Freund und Ermittlerkollegen bitten würden, Ihnen diese Feststellung näher zu erklären? Der kann Ihnen darauf nämlich viel besser Auskunft geben als ich. Fragen Sie Peter the Fireman, den Burschen, der anfängt, Brände zu löschen, und schließlich welche legt.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, und zog statt einer Antwort die Akten zu sich heran. Mr. Evans nahm ihr gegenüber Platz, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und sah zu, was sie machte. Lucy mochte nicht, wie er sie anstarrte, seine Aufdringlichkeit bereitete ihr Unbehagen. »Hätten Sie vielleicht Lust, mir zu helfen?«, fragte sie abrupt. »Was mir vorschwebt, ist eigentlich nicht so schwierig. Zunächst einmal möchte ich einfach die Männer ausklammern, die hier in der Klinik waren, als die drei anderen Morde passiert sind. Das heißt, wenn sie hier waren …«
Er unterbrach sie. »Dann konnten sie nicht da draußen sein. Dazu müssen wir lediglich die Daten abgleichen.«
»Richtig«, sagte sie.
»Nur dass es dabei ein paar Dinge gibt, die das ein bisschen komplizieren.«
Sie schwieg einen Moment, dann fragte sie: »Und die wären?«
Evans rieb sich das Kinn, bevor er antwortete. »Es gibt einen kleinen Prozentsatz an Patienten, die auf freiwilliger Basis eingeliefert wurden. Die können Beurlaubung beantragen, zum Beispiel am Wochenende, in der Obhut von Angehörigen. Das wird sogar begrüßt. Es ist daher denkbar, dass jemand, der seiner Akte nach ein Vollzeit-Insasse der Anstalt ist, trotzdem eine gewisse Zeit außerhalb dieser Mauern verbracht hat. Natürlich unter Aufsicht. Das trifft allerdings nicht auf Patienten zu, die per Gerichtsbeschluss hergekommen sind. Und auch nicht auf diejenigen, die vom zuständigen Personal als eine Gefahr für sich selbst oder auch als gemeingefährlich eingestuft sind. Falls Sie aufgrund einer Gewalttat hier sind, dann bekommen Sie keinen Ausgang, nicht einmal für einen Familienbesuch. Es sei denn, ein zuständiger Mitarbeiter würde darin einen akzeptablen Bestandteil des Therapiekonzepts sehen. Das würde allerdings auch von den Medikamenten abhängen, die der Patient zu dem Zeitpunkt bekommt. Nimmt er Tabletten, kann jemand über Nacht nach Hause geschickt werden, aber nicht, wenn er Injektionen braucht. Verstehen Sie?«
»Ich denke schon.«
»Und«, fuhr Evans fort und kam, während er sprach, richtig in Fahrt, »es gibt Verhandlungen. Wir müssen unsere Fälle in regelmäßigen Abständen wie in einem gerichtlichen Verfahren vorstellen, in denen wir begründen, wieso jemand hierbehalten oder, in einigen Fällen, entlassen werden sollte. Dazu kommt ein Anwalt, der die Interessen der Öffentlichkeit vertritt, aus Springfield rauf, und wir haben auch einen Patientenanwalt, der zusammen mit Dr. Gulptilil und einem Kerl aus der psychiatrischen Abteilung des Gesundheitsamts im Gutachterausschuss sitzt. Ein bisschen so wie im Gefängnis ein Gremium, das über die Gewährung von Hafturlaub entscheidet. Diese Verfahren finden von Zeit zu Zeit statt und haben eine irrtumsanfällige Erfolgsbilanz.«
»Was verstehen Sie unter
irrtumsanfällig?«
»Leute werden entlassen, weil sie als
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