Die Apothekerin
Rotkäppchen und Schlittschuhläufern in feinster Laubsägearbeit, und natürlich Großmutters Rauschgoldengel. Dieter und Levin sahen mir zu, als ich die Schätze auspackte. Das meiste war für den Tannenbaum gedacht, aber die geschnitzten Kurrende-Sänger und das Räuchermännchen aus dem Erzgebirge konnte man bereits im Advent aufstellen.
Levin hatte Sinn für Nostalgie und braute einen Punsch aus Rotwein, Gewürznelken und Zucker. Das Gesöff stieg schnell zu Kopf, die Männer wurden albern.
Lange hatte ich den geliebten Rauschgoldengel nicht mehr angeschaut. Als Kind hielt ich diese Figur für das Christkind in Person. Das feine Gesicht und die Händchen waren aus Wachs. Ein gefalteter Rock aus steifem, leicht ramponiertem Goldpapier ließ den Engel prächtig funkeln und stramm stehenbleiben.
»Was hat sie gesagt?« fragte Dieter, »Rauschgiftengel?« Levin brach in unbändiges Gelächter aus. Dieter lachte mit, und beide konnten gar nicht wieder aufhören.
»Unser Rauschgiftengel wird böse«, sagte Levin, »sieh ihn dir bloß an, wie die Ader unter dem Goldhaar schwillt, dort arbeitet ein analytischer Verstand.«
An diesem Abend blieben sie bei dieser Anrede. Unter normalen Verhältnissen hätte ich ebenfalls dem Rotweinpunsch zugesprochen, aber meine speziellen Umstände hielten mich davon ab. So kam es, daß ich keinerlei Spaß verstand.
Ihr Scherz hatte eine Bedeutung, die ich erahnte: Sie hatten meine Dollars für einen größeren Deal verwendet, und Levin hatte nie in düsteren Zellen gesessen, sondern sich irgendwo beim Surfen amüsiert. Voller Zweifel sah ich von einem zum anderen. ›Welcher ist der Vater meines Kindes ?‹ dachte ich ununterbrochen. Nach allen meinen Berechnungen hatten beide etwa die gleiche Chance, im nächsten Jahr Vater zu werden.
»Euer Rauschgiftengel geht ins Bett«, sagte ich. »Begießt eure großen Erfolge ohne mich. Aber bildet euch nicht ein, ihr könntet mich für dumm verkaufen.«
Ich fragte den Engel: »Was soll ich tun? Warum mache ich alles falsch im Leben?« Der Engel nahm Haltung an und zitierte aus Wallensteins Lager: »Und setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.« Obgleich ich schlief, spürte ich, daß der Himmelsbote weißes Pulver wie Schnee über mich streute: Koksflöckchen, Weißröckchen, dein Weg ist so weit.
Als ich am nächsten Morgen einen Blick in die unaufgeräumte Küche warf, war mir wieder einmal speiübel. Hatte Levin mir diesmal ein Pulver ins Essen gegeben? Auf alle Fälle suchte ich die Kopie meines Testaments heraus und legte sie demonstrativ auf den schmierigen Küchentisch.
Bei meiner Arbeit kam ich im allgemeinen nicht zum Nachdenken. Abgesehen von eiligen Menschen, die schnell ein Medikament abholten, gab es einige redselige Stammkunden. Es waren in der Regel alte und einsame Menschen, deren einzige Abwechslung der Gang zum Arzt und zur Apotheke war. Ich wußte, daß mein Beruf eine soziale Funktion hat: Nicht nur Beratung, auch Zuhören wird gefordert. Während ich mich nie drückte, verschwand meine Chefin gern beim Anblick ausdauernder Jammerlappen aus dem Sichtfeld. Auch meine sportliche Kollegin Ortrud murmelte dann schadenfroh: »Hella, it’s your turn.«
Zuweilen mußte ich mir absurde Geschichten anhören, häufig handelten sie von »bösartigen« Verwandten. Die Schwiegertochter wolle sie umbringen, sagte eine alte Frau, sie habe ihr schon mehrmals die Tropfen falsch abgezählt. Ich bezweifelte eigentlich nie, daß es in gewissen Familien ein Corriger la fortune gab und die Chancen dafür auch in der Intimität einer Wohngemeinschaft günstig standen.
Meistens sind es die Mütter, die in der Apotheke erscheinen, um für kranke Kinder, Omas und Ehemänner Medikamente zu besorgen, für sich selbst die Pille. Eine Ausnahme war Pawel Siebert, ein unfroher Mann mittleren Alters, der in der Nähe wohnte und für seine Familie die Einkäufe erledigte. Meine Chefin hatte ihn zu seiner Aufheiterung mitgebracht, als ich damals zur Party einlud.
Er war ein stiller, sympathischer Mann, der einen in kein Gespräch verwickelte. Mit der Zeit und an Hand der ausgestellten Rezepte hatten wir herausgefunden, daß seine Frau in psychiatrischer Behandlung war. Von Dorit hatte meine neugierige Chefin erfahren, daß die Arme unter einer Psychose litt und von paranoid-halluzinatorischen Schüben heimgesucht wurde.
Ich war allein in der Apotheke, als dieser ebenso beklagenswerte wie gutaussehende Mann kurz
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