Die Arena
Vorderreifen zerstochen. Sammy betrachtete den Wagen sekundenlang und fühlte dabei, wie eine noch tiefere Niedergeschlagenheit sie erfasste. Eine Idee, flüchtig, aber glasklar, ging ihr durch den Kopf: Sie konnte sich die verbliebenen Dreamboats mit Walter teilen. Sie konnte seines fein gemahlen in eines der Playtex-Fläschchen kippen, die er »Boggies« nannte. Der Geschmack ließ sich mit Schokoladenmilch tarnen. Begleitet wurde diese Idee von der Erinnerung an den Titel eines Plattenalbums, das Phil gehört hatte: Nothing Matters and What If It Did?
Sie schob die Idee beiseite.
»Diese Art Mama bin ich nicht«, erklärte sie Little Walter.
Er sah auf eine Weise glotzend zu ihr auf, die sie an Phil erinnerte - aber auf nette Art: Der Ausdruck, der auf dem Gesicht ihres von ihr entfremdeten Ehemanns nur nach ratloser Dummheit ausgesehen hatte, wirkte auf dem ihres Sohns auf reizende Art komisch. Sie küsste ihn auf die Nasenspitze, und er lächelte. Das war nett, ein nettes Lächeln, aber die Heftpflaster auf seiner Stirn färbten sich rot. Das war weniger nett.
»Kleine Umplanung«, sagte Sammy und ging wieder hinein.
Erst konnte sie das Tragegestell nicht finden, aber zuletzt entdeckte sie es hinter der Vergewaltigungs-Couch, wie sie sie zukünftig wohl nennen würde. Sie schaffte es endlich, Little Walter hineinzuzwängen, aber als sie ihn dann hochhob, hatte sie wieder schlimme Schmerzen. Der Schwamm in ihrem Slip fühlte sich bedrohlich feucht an, aber als sie den Schritt ihrer Jogginghose kontrollierte, sah sie keine Flecken. Das war gut.
»Lust auf einen Spaziergang, Little Walter?«
Little Walter drückte nur seine Wange in ihre Schlüsselbeingrube. Manchmal machte sein geringer Wortschatz ihr Sorgen sie hatte Freundinnen, deren Kinder mit sechzehn Monaten schon ganze Sätze gebrabbelt hatten, und Little Walter beherrschte nur neun oder zehn Wörter -, aber nicht an diesem Morgen. An diesem Morgen hatte sie andere Sorgen.
Für einen Tag in der letzten Oktoberwoche erschien ihr das Wetter schrecklich warm; der Himmel über ihr leuchtete in einem ungewöhnlich blassen Blau, und das Licht wirkte irgendwie verschwommen. Sie spürte, dass ihr in Gesicht und Nacken fast augenblicklich der Schweiß ausbrach, und ihr Schritt pochte schmerzhaft - mit jedem Schritt schlimmer, so kam es ihr zumindest vor, und dabei hatte sie doch erst ein paar zurückgelegt. Sie überlegte, ob sie umkehren sollte, um sich Aspirin zu holen - aber machten diese Tabletten Blutungen nicht noch schlimmer? Außerdem wusste sie nicht bestimmt, ob sie welche dahatte.
Dazu kam noch etwas anderes, das Sammy sich kaum einzugestehen wagte: Wenn sie in den Trailer zurückging, würde sie vielleicht nicht den Mut finden, ihn wieder zu verlassen.
Unter dem linken Wischerblatt ihres Toyotas klemmte ein weißer Zettel. Der gedruckte Text am oberen Rand - Eine Kurzmitteilung von SAMMY - war von Gänseblümchen eingerahmt. Von ihrem eigenen Notizblock in der Küche abgerissen. Dieser Gedanke rief bei ihr eine gewisse müde Empörung hervor. Unter die Gänseblümchen hatte jemand gekritzelt: wenn Du uns verpfeifst, sind bald mehr als nur Deine Reifen platt. Und darunter in anderer Schrift: Nächstes Mal drehen wir Dich vielleicht um und nehmen uns die andere Seite vor.
»In deinen Träumen, du Wichser«, sagte sie mit schwacher, erschöpfter Stimme.
Sie zerknüllte die Mitteilung, ließ sie neben einen platten Reifen fallen - der arme alte Corolla sah fast so müde und traurig aus, wie sie sich fühlte -, schleppte sich bis ans Ende der Einfahrt und machte dort eine Pause, um sich für ein paar Sekunden an den Briefkasten zu lehnen. Das Metall an ihrer Haut war warm, die Sonne brannte ihr heiß in den Nacken. Und dazu kaum die Andeutung einer Brise. Dabei sollte der Oktober doch kühl und belebend sein. Vielleicht liegt das an der globalen Erwärmung, dachte sie. Sie war die Erste, der dieser Gedanke kam, aber nicht die Letzte, und das Wort, das sich schließlich durchsetzte, lautete nicht global, sondern lokal.
Vor ihr lag die Motton Road: verlassen und reizlos. Ungefähr eine Meile links von ihr lagen die hübschen neuen Häuser von Eastchester, in die die berufstätigen Daddys und Mamis aus den besseren Kreisen von The Mill am Ende ihres Arbeitstages in den Geschäften und Büros und Banken von Lewiston-Auburn zurückkehrten. Rechts von ihr lag das Zentrum von Chester's Mill. Und die Poliklinik.
»Kann's losgehen, Little
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