Die Ares Entscheidung
griff zuerst eine bestimmte Region des Frontallappens der Großhirnrinde an und unterband damit jedes zusammenhängende Denken, das es dem Betroffenen ermöglicht hätte, seine Emotionen im Zaum zu halten oder die möglichen Konsequenzen seiner Handlungen zu verstehen.
Noch interessanter war die Beschädigung der Spiegelneuronen, die wichtig für die Entwicklung von Empathie sind und mit dem Bezug zu den Mitmenschen zu tun haben. Sarie vermutete, dass der Parasit dem Betroffenen die Fähigkeit raubte, sich in nicht infizierte Mitmenschen hineinzuversetzen, während der Bezug zu anderen Infizierten erhalten blieb – was erklären würde, warum sie sich nicht gegenseitig angriffen.
Das Interessanteste waren jedoch die Blutungen. Die Kapillargefäße im Kopf platzten aufgrund der hohen Konzentration des Parasiten in dieser Region, und nicht unbedingt, weil sie von der Infektion direkt angegriffen wurden. Statt der üblichen Verbreitungswege wie Husten, Niesen oder Durchfall hatte der Parasit zu dieser Ansteckungsmethode gegriffen. Die Blutungen aus der Kopfhaut waren jedoch keineswegs so dramatisch, wie sie aussahen. Die Opfer starben nicht am Blutverlust, wie man zuerst angenommen hatte. Sie starben an der massiven Schädigung des Gehirns.
Der Parasit vermehrte sich ungehemmt, und sein genetischer Code schien beängstigend wandlungsfähig zu sein. Wurde die Konzentration in den Zielgebieten zu hoch, suchten sich mutierte Parasiten Wege in andere Teile des Gehirns
und trieben dort ihr Unwesen. Schließlich beeinflussten sie auch autonome Funktionen wie die Herzfrequenz, die Körpertemperatur und die Atmung.
Positiv an dem Ganzen war, dass sie viel mehr über den Parasiten herausgefunden hatte, als in der kurzen Zeit zu erwarten war. Negativ war jedoch, dass sie nicht wusste, was sie mit ihren Erkenntnissen anfangen sollte.
Kapitel siebzig
ZENTRALIRAN
1. Dezember, 07:55 Uhr GMT + 3:30
Der einzige freie Platz am Tisch war der am Kopfende neben Omidi. Entlang des Tisches saßen die »Abteilungsleiter« des Projekts, hochgebildete Wissenschaftler aus verschiedenen Bereichen. Keiner von ihnen war auf das Gebiet der Parasitologie spezialisiert, doch sie waren alle höchst kompetent, und das machte sie gefährlich.
»Dr. van Keuren«, hob Omidi an, als sie sich setzte. »Sie haben jetzt eine erste Autopsie von Thomas De Vries vorgenommen. Was haben Sie dabei herausgefunden?«
Sie war noch nie gut im Lügen gewesen, doch nun musste sie es rasch lernen, um zu überleben. Auf eine Rettung in letzter Minute brauchte sie nicht zu hoffen. Sie war ganz auf sich allein gestellt.
»Der Parasit vermehrt sich extrem schnell und passt sich erstaunlich gut an seine Umgebung an. Dadurch sollte er relativ einfach zu verändern sein. Will man zum Beispiel erreichen, dass die Symptome schneller auftreten, kann man sich mit Versuchstieren heranarbeiten und danach selektieren, wie schnell die Symptome jeweils einsetzen.«
Sie erzählte Omidi damit nichts, was ein Biologiestudent im zweiten Jahr nicht auch hätte wissen können, doch das schien ihm nicht aufzufallen. Vielleicht würde es leichter gehen, als sie gedacht hatte.
»Würde man damit eventuell auch die Zeit bis zum Tod verkürzen, Doctor? Und wenn ja, könnte das nicht die Ausbreitung
des Parasiten beeinträchtigen, wenn die Wirte schneller sterben?«
Der Hoffnungsschimmer, der kurz aufgeflammt war, schwand wieder. Sie hatte gehofft, diese Frage so lange wie möglich hinausschieben zu können, weil sie hier zu Lügen greifen musste, durch die man ihr auf die Schliche kommen konnte. Omidi war zwar ein verdammter Hundesohn, doch er war keineswegs dumm, wie er soeben wieder einmal bewiesen hatte.
»Die Beeinträchtigung des Frontallappens der Großhirnrinde ist zwar mit Blutverlust verbunden, aber das ist nicht das Wesentliche. Das Ziel muss sein, dass der Parasit zielgerichteter agiert. Es könnte sogar sein, dass wir eine Verzögerung des tödlichen Blutverlusts erreichen, weil die Blutung nur ein sekundärer Effekt ist.«
»Sind Sie sicher, dass der Blutverlust die Todesursache ist?«
Seine Frage versetzte ihr einen Adrenalinschub, den sie zu überspielen versuchte. Konnte es sein, dass er etwas wusste?
»Die Betroffenen versterben wahrscheinlich vor allem an ihren Verletzungen und der Erschöpfung«, antwortete sie ausweichend.
»Aber abgesehen davon?«, bohrte er weiter.
»Ich … ich denke, dass der Blutverlust die logische Erklärung ist – aber
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