Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
berührte. Sie würde ihn eine ganze Weile nicht gebrauchen können, aber ihre Hauptsorge waren die Flügel. Sie stützte sich auf einen Felsbrocken, um das Gewicht zu halten, und breitete die einstmals glänzenden, schwarzen Schwingen aus. Sie waren steif, aber Rabe spürte keinen Schmerz, und anscheinend hatten ihre Flügel kaum Schaden genommen. Sie hatte einige Federn verloren, und ihr Gefieder war insgesamt arg mitgenommen und verdreckt, aber der Schnee hatte das Schlimmste bei ihrem Sturz verhindert. Mit einem tiefen Atemzug schwang sie sich, so gut sie das mit ihrem verletzten Bein konnte, in die Höhe. Sie verlor das Gleichgewicht und wäre beinahe der Länge nach auf den Boden gefallen, aber zu ihrer Erleichterung zogen ihre Flügel ihr Gleichgewicht in die Höhe, und sie begann, sich mit gleichmäßigen Schlägen in die Luft zu schrauben. Nun, da sie ihre größte Sorge hinter sich gelassen hatte, wollte sie sich umsehen und entscheiden, was sie als nächstes tun würde.
Der Himmel war ein herrlicher Anblick, nachdem sie so lange nichts als graue Wolken gesehen hatte. Rabe schwelgte in dem sanften Rosa, dem zarten Grün, dem durchscheinenden Blau und dem schwindelerregenden Gold des Sonnenuntergangs. Die Schönheit des Himmels schlug sie so in ihren Bann, daß es eine ganze Weile dauerte, bis sie auch hinunterblickte auf die Erde, aber als die Farben am Himmel schließlich erblaßten, war sie maßlos erstaunt, sie auf der Erde unter sich wiederzufinden. Einen Augenblick lang war ihr schwindelig, und sie verlor die Orientierung, aber als sie direkt nach unten sah, konnte sie das Plateau erkennen, von dem sie losgeflogen war. Sie war auf dem letzten der Berge gelandet. Die Schneedecke dort wurde dünner und verschwand auf der anderen Seite schließlich vollkommen, so daß nur dunkle, weit verstreute Felsbrocken übrigblieben, die sich einem dunklen, unheimlichen Wald entgegenstrecken. Dahinter breitete sich, soweit das Auge sehen konnte, das Meer der Farben des Sonnenuntergangs aus. Rabe hielt den Atem an. Sie war also nach Süden gekommen, und dies hier war die legendäre Juwelenwüste!
Das geflügelte Mädchen kehrte zu dem Felsplateau zurück, um sich auszuruhen. Nach den Anstrengungen der vergangenen Nacht wurde sie schnell müde, und außerdem mußte sie nachdenken – und essen. Da sie keine Erfahrungen im Reisen hatte, machte sie sich gierig über den Inhalt ihrer Tasche her, ohne einen Gedanken zu verschwenden, woher sie die nächste Mahlzeit nehmen sollte. Beim Essen dachte sie über ihren nächsten Schritt nach. Rabe hatte den Palast verlassen, ohne eine Idee zu haben, wo sie hingehen würde oder wie sie leben wollte.
Zum ersten Mal bekam sie wirklich Angst. Was, wenn die Leute hier so waren wie Schwarzkralle oder gar noch schlimmer? Aber der Gedanke an den Hohepriester und das Schicksal, das sie an seiner Seite erwartet hätte, war genug, um ihre Entschlossenheit zu stärken. Sie würde jedoch Hilfe finden müssen. Rabe war eine verwöhnte Prinzessin, und sie hatte Verstand genug, um zu begreifen, daß sie keine Ahnung hatte, wie man allein überlebte. Außerdem, so sagte sie sich, wenn man mich bedroht, kann ich ja immer noch wegfliegen. Die Frage des Wohin war leicht beantwortet. Sie konnte nicht nach Norden zurückkehren. Dort würden sie jetzt nach ihr suchen. Der Gedanke an mögliche Verfolger ließ sie schaudern. Es war lebenswichtig, daß sie sofort weiterreiste, und zwar nach Süden, weg von den Bergen ihrer Geburt. Der funkelnde Sand schien genug Licht zu geben, so daß sie bei Nacht reisen konnte. Also holte Rabe noch einmal tief Luft, streckte ihre Flügel aus und schwang sich in die Luft nach Süden, über die glühende Wüste hinweg.
31
Dhiammara
»Heil dir, holde Dhiammara!«
»Du machst Witze!« Aurian wandte sich in offenkundiger Ungläubigkeit an Yazour. Am achtzehnten Abend ihrer Reise hatte die Schönheit der Wüste langsam an Reiz verloren. Der Juwelenstaub saß überall: in ihrem Haar, in ihrer Kehle, in ihren Kleidern – und weil die Oasen, die sie besucht hatten, die einzigen Quellen des lebenswichtigen Trinkwassers in der Wüste waren, durfte dort nicht gebadet werden. Die Magusch fühlte sich unaussprechlich schmutzig, und ihr ganzer Körper juckte. Ihr Baby stahl ihr den Löwenanteil von ihren schmalen Essensrationen, so daß sie einen ständigen Heißhunger hatte, obwohl Bohan und Anvar ihr jedesmal etwas von ihrem eigenen Essen aufzwangen. Die
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