Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
intensiven Unterrichtsstunden mit Anvar hatten sie beide um einen großen Teil des so dringend benötigten Schlafs gebracht, und Aurian war müde und reizbar. Ihre Augen brannten von dem Flirren des Sandes. Sie war ganz eindeutig nicht in der Stimmung für irgendwelche Scherze.
Aurian ließ ihr Pferd in eine langsamere Gangart fallen, hob sich den Schleier von den Augen und blinzelte in das funkelnde Licht. Dort, als Silhouette gegen den mondhellen Himmel, ragte ein einsamer Berg auf – ein Berg von einer unglaublichen Höhe. Sein Gipfel war seltsam abgeflacht, als wäre er von einem gewaltigen Schwert abgehackt worden, und die steilen Bergwände funkelten mit einer spiegelartigen Helligkeit, als hätte jemand sie poliert. Das ganze Gebilde zeigte keine Anzeichen von Verwitterung, und auch das war an diesem Ort der sengenden Sandstürme ein Ding der Unmöglichkeit. »Das ist kein natürlicher Berg!« rief sie anklagend aus.
»Da gebe ich dir recht, aber niemand kennt seine Geschichte«, erwiderte Yazour. »Aus der Nähe sind seine Ausmaße geradezu atemberaubend. Er sieht jetzt schon gigantisch aus, aber Entfernung ist in der Wüste immer etwas Trügerisches.«
Er hatte recht, wie Aurian später herausfinden sollte. Es bedurfte noch eines harten, stundenlangen Rittes, bevor sie die turmhohe Bergspitze erreichten, und als sie sich ihren steilen Wänden näherten, wurde der Horizont langsam hell. Der Berg war gewaltig, wobei der Umstand, daß das Land um ihn herum vollkommen flach war, den Eindruck seiner Größe noch steigerte. Der schlanke Bergkegel stieg aus dem ihn umgebenden Sand empor wie eine Insel im Meer. Während der letzten Meilen ihres Rittes war es unmöglich gewesen, das ganze Gebilde im Auge zu behalten, und nun, als sie an seinem Fuße angekommen waren, konnten sie nur noch eine vertikale Wand aus dunkel glänzendem Fels sehen, die sich meilenweit nach oben und zu den Seiten hin erstreckte. Yazour ritt ihnen voraus. Er galoppierte ein Stück an der wie poliert wirkenden Wand entlang, und bald sah auch Aurian den dunkleren Schatten auf dem Stein – eine schmale Öffnung, die gerade hoch genug war, um ein Pferd hindurchzulassen.
Einer nach dem anderen führten die Reiter ihre Tiere durch den Eingang und hinein in die dahinterliegende, kühle Dunkelheit. Dann wurden Fackeln entzündet, die an einer Seite der Öffnung aufgestapelt lagen, und in die Halter an den Wänden gesetzt. Als es langsam heller wurde, sah Aurian sich ungläubig um. Die Höhle war ungeheuer groß, und ihre Decke verlor sich im Dunkel, das über ihnen herrschte. Zu ihrer Linken nahmen zwei Wasserbecken die Hälfte des Platzes auf dem Boden ein; das höhere befand sich auf einem Felsvorsprung, von dem das Wasser in einem schmalen Rinnsal in das darunterliegende floß. Eine steinerne Rampe führte zu dem oberen Becken, wo man die Pferde und die Maultiere zum Trinken hinführte. Der Boden der Höhle bestand aus flachem Fels, auf dem sich mancherorts funkelnder Juwelensand fand, den der Wind hineingeweht hatte. Dieser Sand, zusammen mit dem Widerschein der glasigen Wände, verstärkte das Licht der Fackeln beträchtlich.
»Dieser Ort ist unglaublich!« Anvar, der neben der Magusch stand, sah sich mit weit aufgerissenen Augen um.
»Das untere Becken dient zum Baden«, sagte Yazour. »Wir haben immer einen guten Vorrat an Nahrungsmitteln und Brennmaterial hier, so daß wir unsere Vorräte ergänzen können, und heute werden wir ein Festessen veranstalten – jedenfalls wird es uns so vorkommen, nach all dem Fasten der letzten Zeit. Wir werden hier zwei oder drei Tage Rast machen, bevor wir Weiterreisen.«
»Wunderbar!« Aurian lächelte zu ihm auf, und in ihrem Blick lag eine stillschweigende Entschuldigung für ihre Launenhaftigkeit in den letzten Tagen. »Ich hätte nie gedacht, daß ich das Reiten einmal leid werde, aber im Augenblick würde ich am liebsten nie wieder ein Pferd zu Gesicht bekommen. Ich könnte jemanden ermorden für ein Bad, eine heiße Mahlzeit und genug Schlaf.«
»Das sollst du alles bekommen.« Anvar legte seinen Arm um sie und führte sie nach rechts, wo eine Reihe kleiner Feuer brannte, die man in der Nähe eines Entlüftungsspaltes im Felsen errichtet hatte, der den Rauch aus der Höhle herauszog.
Seit Anvar wieder Herr über seine Kräfte war und begonnen hatte, von der Magusch zu lernen, hatte ihre Beziehung sich ganz allmählich verändert. Alle außer Bohan und Shia, die in ihr Geheimnis eingeweiht
Weitere Kostenlose Bücher