Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
gründlich hin. Schau mit deinem Kopf, nicht mit deinem Herzen.«
Der Anblick von Aurians bleichem, leblosem Gesicht war wie ein Messer durch Anvars Fleisch, aber er nahm sich zusammen und sah hin. Ein Augenblick verging und noch einer – er versteifte sich. Hatte er sich das nur eingebildet? Noch ein Augenblick, und er sah es wieder – ein leises Heben ihrer Brust, kaum wahrnehmbar, aber eindeutig vorhanden. »O ihr Götter«, flüsterte er. »Shia, du hast recht! Du hast recht!« Außer sich vor Freude, umarmte er die große Katze.
»Natürlich«, erwiderte Shia selbstgefällig. »Katzen sind klug, Anvar. Die anderen Überreste sind sehr alt – vielleicht sind die verhungert oder an ihren Verletzungen gestorben. Aber wir haben trotzdem noch ein Problem. Wie bekommen wir sie da raus?«
»Ja, wirklich, wie?«
Eine Stunde später hätte Anvar am liebsten vor Enttäuschung laut geschrien. Sie hatten auf den Kristall eingeschlagen, hatten ihm mit den Griffen ihrer Schwerter zugesetzt, und Shia hatte sich sogar mit Zähnen und Klauen dagegengeworfen. Der Kristall schüttelte ihre Bemühungen ab und blieb unversehrt und vollkommen uneinnehmbar.
Anvar trat zurück, keuchte und warf einen finsteren Blick auf den unnachgiebigen Edelstein. »Das hat keinen Sinn«, sagte er. »Er ist absolut unzerbrechlich, aber trotzdem hat es dieses Geschöpf geschafft, sie da hineinzubekommen. Irgendwie muß das Ding sich also öffnen lassen. Shia, kannst du hier irgendwelche Magie spüren?«
Die Katze hatte sich mutlos auf den Boden geworfen. »Ja, ich spüre etwas«, sagte sie, »aber es ist etwas anderes, nicht wie ein Zauber.« Sie kratzte mit ihren Klauen über den glatten Steinfußboden, als suche sie nach den richtigen Worten. »Es fühlt sich an, als wäre der Kristall selbst die Magie, und nicht, als mache er die Magie, wenn du verstehst, was ich meine.«
Anvar verstand sie nicht, und er hatte Angst, irgendwelche Zaubersprüche aus seinem geringen Kenntnisschatz auszuprobieren, denn er befürchtete, in seiner Unwissenheit etwas tun zu können, das der Magusch schadete. Er ließ seine Hände über die glatten Flächen des Juwels gleiten und zermarterte sich das Gehirn, um eine Möglichkeit zu finden, das Problem zu lösen. Dann zog er sie fluchend zurück, als seine Finger sich an einer scharfen Kante schnitten. »Bohan, hast du es geschafft, ein Stück aus dem Ding rauszuhauen?«
Der Eunuch schüttelte nachdrücklich den Kopf.
Während er an seinen blutenden Fingern saugte, sah Anvar sich die Stelle noch einmal genau an. Sie befand sich hoch oben an der Seite des Kristalls, aber er konnte keine Schramme in der makellosen Oberfläche entdecken. Dann lenkte ein kleiner Blutfleck seinen Blick auf die richtige Stelle. Er tastete sie noch einmal ab, vorsichtiger diesmal, und fand eine Aushöhlung: einen Platz, an dem eine einzige Facette fehlte, deren Fehlen jedoch von den inneren Reflexionen des Edelsteins verborgen wurde. Anvar runzelte die Stirn. »Da fehlt ein ganzes Stück. Ich frage mich …«
»Ein Schlüssel?« Shia hatte schnell begriffen, was er meinte.
»Wenn es so ist, müssen wir ihn finden, und zwar schnell. Wer weiß, wie lange Aurian da drin überleben kann.« Anvar erstarrte, als ihm ein entsetzlicher Gedanke kam. »Was ist, wenn die Kreatur ihn hatte?«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Hör auf, das Schlimmste zu befürchten, und fang an zu suchen.« Mit diesen Worten war Shia verschwunden, um den Raum zu durchstreifen.
Es war Bohan, der das fehlende Stück schließlich hinter dem Kristall in einer Nische in der Mauer fand. Anvar riß es ihm aus der Hand. Es war größer als seine Faust und an einem Ende spitz; seine breiten Facetten fingen an ihren Kanten das Licht ein. Anvar hielt den Atem an, streckte sich, drückte den Stein in das Loch und drehte ihn so lange hin und her, bis er paßte. Mit einem Klicken fügte er sich an seinen Platz, und Anvar trat hastig zurück, als der Edelstein in einem schwindelerregenden weißen Licht zu flackern begann. Allmählich versiegte das Licht, um den Kristall durchsichtig zurückzulassen; alle Spuren seiner früheren Trübheit waren verschwunden. In seinem Inneren sah man nun verzerrte, gebrochene Spiegelbilder von Aurians Körper; dann bildete sich plötzlich ein Riß in der Vorderseite des Juwels. Es öffnete sich der Länge nach wie eine zusammenklappbare Muschel, so daß es sich in zwei ausgehöhlte Segmente mit dicken Wänden teilte. Anvar
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