Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
weigerte sich, eine Pause zu machen. »Nein«, flüsterte sie. »Ich will es hinter mich bringen.« Doch irgendwann stand fest, daß sie es in ihrem ausgehungerten und erschöpften Zustand ohne eine Pause niemals bis nach oben schaffen würden. Aurian setzte sich an die Turmmauer – so weit vom Rand entfernt wie nur möglich –, kauerte sich zusammen und machte die Augen fest zu. Nach einiger Zeit gingen sie dann weiter, mit verkrampften Muskeln und schmerzendem Kopf, bis Aurian so sehr mit ihren strapazierten Gliedern beschäftigt war, daß sie den Abgrund unter sich ganz vergaß. Ein Gefühl der Ungläubigkeit durchflutete sie, als sie endlich den Torbogen über sich entdeckte. Halb besinnungslos taumelte sie in das gepriesene Tageslicht.
»Sei vorsichtig!« Anvar hielt sie am Arm fest und riß sie zurück. Taumelnd fiel Aurian zu Boden.
»Anvar«, keuchte sie, »ich hasse dich. Ich hasse dich unendlich.«
Sie erwachte, als eine sanfte Hand sie an der Schulter berührte. Anvars Gesicht war dem ihren sehr nahe. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe dich so lange schlafen lassen, wie ich es gewagt habe, aber wir müssen weitergehen, solange es noch etwas Tageslicht gibt. Haßt du mich immer noch?«
Aurian stöhnte. Der ganze Körper tat ihr weh. »Das kommt darauf an. Habe ich wirklich gesehen, was ich glaube, gesehen zu haben?«
»Ich fürchte ja.«
»In diesem Falle lautet die Antwort: ja. Ich hasse dich.« Sehr vorsichtig bewegte sie sich an den Rand der Plattform, die das Dach des Turms bildete, und spähte hinunter. Ach, wie gut es doch tat, nach ihrer nächtlichen Reise durch die Wüste und den langen Tagen in den düsteren Hallen die Sonne und den Himmel wiederzusehen. Und trotz ihrer Angst war der Ausblick atemberaubend. Der Turm stand an einem Ende einer ovalen Ebene, die etwa eine Wegstunde lang sein mochte – der Boden eines Kraters, der den Gipfel des Berges aushöhlte. Die gezackten Grate der Kraterwände waren höher als das Dach, auf dem sie kauerte, und sie schützten das Tal darunter vor dem schlimmsten, blendenden Funkeln der Wüste. Und in dem Tal … Aurian hielt den Atem an. Dort vor ihr lag die verlorene Stadt des Drachenvolks!
Sie war nicht in Linien und Winkeln angeordnet wie eine menschliche Stadt, sondern in einer Reihe sich überlappender Kreise, die sich wie zu einem Spinnennetz vereinten und alle bei einem gewaltigen, kegelförmigen Gebäude zusammenliefen, das wie eine riesige Turmspitze aussah und den Turm, auf dem sie sich jetzt befanden, noch überragte. Die Sonne funkelte wie Feuer auf seiner langgezogenen Spitze, was keine Überraschung war, denn das Gebäude bestand aus einem einzigen, riesigen, grünen Kristall. Als Aurian endlich aufhören konnte, das Ganze fassungslos anzustarren, entdeckte sie, daß auch alle anderen Gebäude in der Stadt in ähnlicher Weise konstruiert waren. Jedes von ihnen war aus einem bunten Juwel geformt, das ein funkelndes Licht ausstrahlte. Die meisten Gebäude waren rund und eingeschossig und hatten breite, flache Dächer, wo, so nahm die Magusch an, die Drachen sich niedergelassen hatten, um die Sonnenstrahlen aufzufangen, die ihr Lebenselixier waren. Dann gab es noch mehrere Türme, Kuppeln und Minarette, alle raffiniert geschnitzt und ziseliert, aber die höchsten Gebäude waren der Turm, von dem sie gerade Ausschau hielt, und die gewaltige Turmspitze in der Mitte.
Anvar, so schien es, hatte das alles schon betrachtet, während sie schlief, und war nun bereit, sich dem praktischen Aspekt seiner Entdeckungen zu stellen. »Ich habe da unten eine Menge Vögel gesehen – ich nehme an, das ist ihr Ruheplatz, bevor sie die Wüste durchqueren. Wenn wir eine Möglichkeit finden, sie zu fangen, haben wir zu essen. Und da unten muß es auch Wasser geben. Selbst die Drachen mußten doch etwas trinken, oder?«
»Also gehen wir hinunter.« Aurian hatte den spiralförmigen Pfad bereits entdeckt; es war ein Zwillingsbruder desjenigen im Innern des Turms, und er wand sich hinunter – und hinunter – bis in die Stadt hinein. »Verflucht und verhext sollen sie sein!« Machtlos schlug sie mit der Faust auf den Stein und brach in Tränen aus. »Warum konnten sie keine Geländer an diesen verdammten Auf- und Niedergängen anbringen?«
»Es tut mir leid, Liebes.« Anvar strich ihr übers Haar. »Aber …«
»Ich weiß, ich weiß.« Aurian setzte sich auf und schniefte; dann rieb sie sich mit dem Ärmel ihres Gewandes übers Gesicht und fing
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