Die Artefakte der Macht 01 - Aurian
über seinem kleinen Feuer einen Krug Ale heiß, als die Musikanten näher kamen, und interessierte sich mehr für seinen dampfenden Krug als für alles andere. Er öffnete die mit Eisenspitzen versehen Tore, ohne recht hinzuschauen, und winkte sie ungeduldig durch. Frei! Anvars Herz jubilierte. Die Musikanten nahmen ihren Weg über den Damm und dann über die baumbestandene Straße zu der Brücke, die zurück in die Stadt führte. Anvar trennte sich von der Gruppe und versteckte sich, bis die anderen in sicherer Entfernung waren, bevor er selbst auf der schmalen, steinernen Bogenbrücke den Fluß überquerte. Dann schlug er einen großen Bogen durch dunkle Hintergassen, um von den Lagerhäusern sicheren Abstand zu halten. Die ganze Zeit war er auf der Hut vor den Patrouillen der Garnison. Er vermied auch die Gruppen betrunkener Nachtschwärmer und kam schließlich auf den Treidelpfad, dem er flußabwärts folgte.
Der Weg kam ihm länger vor, als er ihn in Erinnerung hatte. Der Schnee fiel nun in dichteren Flocken und lag in Wehen quer über dem Weg. Die Sicht war schlecht, und Anvar mußte sich wohl oder übel an das dornige Uferdickicht halten, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, in den Fluß zu stürzen. Die Anstrengungen seiner Flucht hatten die Schmerzen seines geschundenen Körpers noch verstärkt, und er zitterte vor Kälte und Müdigkeit, während ihm der Wind ins Gesicht blies und ihm im Schneegestöber die Sicht nahm. Entschlossen stapfte er weiter, vorwärtsgetrieben durch den Gedanken, Sara wiederzusehen.
Gegen den Hintergrund des hellen Schnees erkannte er an der Mühle den dunklen Umriß einer Frau in Mantel und Kapuze. Die Frau blickte in das schäumende, glänzende Wasser auf dem Mühlrad. Anvar schlug das Herz bis zum Halse. »Sara?« flüsterte er.
Die Frau fuhr mit einem scharfen Schrei herum. Es war Verla, Saras Mutter. »Anvar!«
»Bitte«, bat Anvar sie und ignorierte die Feindseligkeit in ihrer Stimme, »ich muß Sara sehen. Geht es ihr gut?«
»Wie kannst du fragen? Wie kannst du es wagen, hierherzukommen, nach all dem Leid, das du über uns gebracht hast?«
»Was sagst du?« Er nahm sie bei den Schultern. »Was ist geschehen? Erzähl es mir!«
»Also gut!« stieß Verla hervor. Sie machte sich aus seinem Griff frei. »Nach dem, was geschehen war«, sagte sie grimmig, »hat Jard nicht zugelassen, daß Sara dein Kind zur Welt bringt. Er hat sie zu einer Kurpfuscherin von Hebamme in der Stadt gebracht.«
»Nein!« schrie Anvar entsetzt auf.
»O ja. Die Frau hat das Baby wegbekommen, aber etwas ist schiefgegangen, und jetzt kann Sara nie wieder ein Kind haben.«
Anvar fiel auf dem schneebedeckten Pfad auf die Knie und barg seinen Kopf in den Händen. »O ihr Götter«, flüsterte er. Sara! Sein Kind!
»Danach«, fuhr Verla gnadenlos fort, »hat Jard sie als Ehefrau an Vannor verkauft.«
»Was?« stöhnte Anvar. Dem mächtigsten Kaufmann der Stadt durfte keiner in die Quere kommen – und jeder vermied das auch geflissentlich, vor allem, wenn er von den dunklen Gerüchten über Vannors Vergangenheit in den Docks gehört hatte.
»Genau das«, sagte Verla bitter. »Ihm war es egal, daß sie unfruchtbar ist. Er hat Kinder von seiner ersten Frau. Er wollte Sara fürs Bett, und er war bereit, dafür zu zahlen. Ich weiß nicht, ob sie glücklich ist – wir sehen sie nie. Ich hoffe, dir gefällt, was du getan hast. Und jetzt verschwinde von hier. Ich will nicht, daß du mir noch einmal unter die Augen kommst!«
Anvar wollte seinen Mund öffnen, um zu protestieren, als ihn ein schwerer Schlag auf den Hinterkopf traf. Sprachlos und halb blind vor Schmerz brach er im Schnee zusammen. Das letzte, was er hörte, war Jards Stimme. »Gut gemacht, Verla! Fessle ihn, während ich die Wachleute hole.« Der Müller griff seine Hand und besah sich das Mal darauf im Licht der Laterne, die er bei sich trug. »Für einen entlaufenen Sklaven gibt es bestimmt eine hübsche Belohnung.«
Es war die Nacht der Wintersonnenwende, die längste des Jahres; D’arvan lag wach, hatte viele dunkle Stunden gezählt, bevor Davorshan mit dem Morgengrauen in die Räume kam, die er zusammen mit seinem Bruder bewohnte. D’arvan hatte keinerlei Zweifel mehr, wie sein Zwillingsbruder die Nacht verbracht hatte. Davorshans Schild war durchlässig geworden, als Leidenschaft seine Konzentration geschwächt hatte; die Verbindung zu seinem Bruder war zu stark, um sich in ihrer Wechselseitigkeit ohne weiteres abbrechen zu
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