Die Artefakte der Macht 02 - Windharfe
kann, wenn der Mond zugenommen und wieder abgenommen hat – denn das ist die Zeitspanne, die der Trauerzeit für die jüngst beklagte Königin gewidmet ist –, muß ich mich bis dahin zurückhalten, aber die Erwartung des Kommenden hat ja ihre eigenen Freuden.«
Während er sprach, spürte Rabe ein dumpfes Entsetzen in sich aufsteigen, aber als sie hörte, wie Schwarzkralle das Gedenken an ihre Mutter in den Schmutz zog, kochte sie vor Zorn, und plötzlich war sie jenseits aller Selbstbeherrschung – und jenseits aller Klugheit. »Du widerliche Kreatur!« Sie schleuderte dem Hohenpriester ihren Wein mitsamt dem Kelch ins Gesicht. »Du wirst niemals auch nur einen Finger an mich legen, nicht solange ich lebe, das schwöre ich. Und ich werde eines Tages erleben, wie du für alle Ewigkeiten in Qualen verrottest! Nicht alle meine Leute sind dir ergeben, Schwarzkralle – verräterischer, mordender Emporkömmling-, glaubst du denn, du kannst mich mit deinen Gittern und deinen Wachen aufhalten? Ich werde mich an dir rächen, sobald – «
Sein Schlag schleuderte das geflügelte Mädchen quer durchs Zimmer. »Törichtes, irregeleitetes Kind.« Schwarzkralle stand über ihr und schüttelte mißbilligend den Kopf. »Hast du denn geglaubt, ich würde dir die Chance geben, jemals wieder zu entfliehen und einen Aufstand anzuführen?« Seine Augen waren mitleidlos und hart. Rabe schrak vor ihm zurück, und ein Schaudern furchtbarer Vorahnungen durchlief sie. Der Hohepriester trieb sie gnadenlos in die Enge und spielte mit seinem Opfer, um dessen Leiden noch zu verlängern. »Es gibt gewisse Gesetze bei den Geflügelten, meine Prinzessin, die nicht einmal du umgehen kannst. Welcher von deinen Leuten würde schon einer verkrüppelten Königin folgen?«
Er winkte seine Krieger herbei, und zum ersten Mal sah Rabe, daß sie mit schweren Keulen bewaffnet waren. Ihr Herz erstarrte zu Eis. »Nein!« wisperte sie, als sie näher kamen. »Nein …«
Schwarzkralle stand da und sah zu; gelassen nippte er an seinem Wein und genoß den Klang ihrer Schreie. Die schweren Eisenknüppel wurden gehoben, wieder und wieder, und krachten mit ihrem ganzen Gewicht auf die zarten Knochen von Rabes Hügeln nieder.
Nachher konnte sich Anvar kaum noch an seine Reise durch Luft und Wolken hindurch zur Zitadelle des Himmelsvolkes erinnern. Das einzige, das ihm im Gedächtnis haften blieb, waren verschwommene Eindrücke: die nur halb wahrgenommenen Gestalten von vier Geflügelten, die das Netz um ihn herum festhielten, dunkle Silhouetten gegen den düsteren Nachthimmel und das unaufhörliche, rhythmische Schlagen ihrer niemals ermüdenden Schwingen; die Unannehmlichkeiten von Schwindel und Übelkeit, die ihm das hin- und herschwingende Netz verursachte; die schneidende Kälte, die sich in sein Gesicht brannte wie Miathans Klinge es getan hatte. Das Gittermuster der rauhen Netzseile grub sich in seine Haut. Er spürte einen wilden Schmerz von der Brandwunde an seiner Wange und das dumpfe Pochen der Prellungen an den Stellen, an denen er von seinen Wächtern geschlagen und mißhandelt worden war. Aber obwohl der Magusch noch immer halb betäubt war, gaben Furcht, Angst und Verzweiflung seinem Bewußtsein die Kraft, sich immer mehr an die Oberfläche zu kämpfen.
Plötzlich war Anvar, als wache er aus den unerbittlichen Fängen eines furchtbaren Alptraums auf: Dort unter sich, in der Morgendämmerung, lag Aerillia. Einen kurzen Augenblick lang vergaß er alle Gedanken an seine eigene Notlage, denn der erste Anblick der Stadt war absolut atemberaubend. Der größte Teil des Himmels verschwand hinter einer dicken Schicht gewaltiger Wolken, die das Purpurgrau von Schiefer hatten; aber die aufgehende Sonne schlüpfte durch einen schmalen Spalt zwischen der wie mit weißen Reißzähnen versehenen Bergkette und dem düsteren Himmel darüber. Die feine Architektur Aerillias spiegelte die Sonnenstrahlen wider und glitzerte wie ein netzartiges Perlendiadem auf der zerklüfteten Braue des Berggipfels. Als sie etwas näher kamen, nahmen die Türme und Zinnen der Stadt unter Anvars staunendem Blick langsam Gestalt an – unglaublich zarte Gebilde lagen in Stein gehauen vor ihm, einem Stein, der aus der Ferne so zart wie gesponnene Netze aus milchigem Glas schien. Jetzt wußte Anvar auch, woher die schimmernden Steine kamen, aus denen die uralten Gebäude der Akademie gebaut waren. Aber die Anlage von Aerillia war so fremd und dabei von so vollkommener Schönheit
Weitere Kostenlose Bücher