Die Artefakte der Macht 03 - Flammenschwert
um den Eunuchen erfüllt. »Warum taucht er nicht auf?« murmelte Shia bei sich. »Großer, tolpatschiger Ochse – ist wahrscheinlich über seine eigenen Füße gestolpert.« Der Gedanke brachte sie mit einem Schaudern zum Stehen. Auf diesen uralten, zerfallenen Felsen konnte ein einziger Fehler schon tödlich sein. Sie näherte sich gerade der Festung, als ein Schrei durch die Nacht hallte.
Ein Schrei? Shia legte die Ohren an. Das konnte unmöglich sein, aber … Fauchend sprang sie von einem Felsvorsprung zum anderen den Berg hinunter, als würde sie von einer Horde Dämonen verfolgt. Es war unmöglich, dieses gefährliche Gebiet im Laufschritt hinter sich zu bringen, aber Shia, die vor Angst und Wut außer sich war, legte ein gefährliches Tempo vor, wobei sie die Krallen ausgestreckt hielt, um besseren Halt zu finden. Als sie den Abgrund direkt vor der Festung erreichte, wurde ihr Herz plötzlich zu einem Eisklumpen. Bohan, dessen Augen in einem vor Entsetzen grau gewordenen Gesicht hervortraten, hielt sich mit den Fingern an dem morschen Felsvorsprung fest, der unter dem Gewicht seines gewaltigen Körpers beinahe ganz abgebrochen war. Irgendwie hatte er es im Fallen geschafft, sich an der Kante des abgebrochenen Steins festzuhalten, und hing jetzt über dem Abgrund.
Vor Shias entsetzten Augen glitten seine Finger, die kaum noch Kraft hatten, ein Stückchen weiter ab. Die Katze sprang nach vorn und bohrte ihre Fangzähne in Bohans Gewand, wobei sie ihre Krallen mit aller Kraft in den Stein grub, um nicht selbst abzurutschen. Das Gewicht des Eunuchen zerrte sie in die Tiefe, und sie mußte die Muskeln in ihrem Kiefer und in ihrem Hals bis an die Grenze des Erträglichen anspannen, aber sie hielt ihn fest und versuchte, ihm so viel wie möglich von seinem Gewicht abzunehmen. Das war alles, was sie für ihn tun konnte. Den Rest würde Bohan selbst erledigen müssen, aber er schien wie gelähmt vor Entsetzen zu sein und außerstande, seinen ohnehin allzu dürftigen Halt aufs Spiel zu setzen, indem er versuchte, sich weiter hochzuziehen.
Shias Gedanken flogen zurück in die Tunnel unterhalb von Dhiammara, in denen sie bei ihrem Kampf gegen jene Spinnenkreatur beinahe in den Abgrund gestürzt wäre und Bohan ihr denselben Dienst erwiesen hatte, um ihr das Leben zu retten. Bohan war ihr schweigsamer, aber beharrlicher Kamerad gewesen seit dem Tag, an dem sie aus der Arena der Khazalim entkommen waren, und seitdem hatte er die Tage ihrer Freiheit mit ihr geteilt. Er war ihr Freund. Sie konnte ihn nicht fallenlassen. Beweg dich, du großer Hornochse, dachte sie verzweifelt. Zieh dich hoch. Ich kann dich nicht ewig so festhalten.
Sie bohrte ihre Kiefer noch fester in den kleinen Stoffetzen, den sie im Maul hielt, und versuchte, sich ein wenig nach hinten zu bewegen. Sie wußte, daß es keinen Zweck hatte, zu versuchen, den Eunuchen allein hochzuziehen, aber es blieb ihr nichts anderes übrig. Das leise, harte Geräusch zerreißenden Stoffs schien durch die Nacht zu gellen und klang in Shias Ohren lauter als ein Donnerschlag.
Bohan!
Der Eunuch sah ihr in die Augen und sagte ganz deutlich: »Shia. Meine Freundin.« Seine Finger kratzten fruchtlos über den Stein, als der Stoff endgültig nachgab, und dann war nichts mehr von ihm zu sehen. Shia hörte den Aufprall eines Körpers weit unten in der Schlucht.
Dann herrschte Stille, und man hörte nur noch den Wind.
Shia ließ sich auf ihre Hinterbeine sinken und heulte den gleichgültigen Bergen ihren Gram entgegen.
Anvars Welt war zu einem Alptraum aus Qualm und Blut und blitzenden Klingen geworden. Obwohl Aurian ihn auf ihrer Reise in der Benutzung eines Schwerts unterwiesen hatte, war dies doch sein erster richtiger Kampf, und sobald er sich in ihn hineingestürzt hatte, mußte er feststellen, daß all ihre sorgfältigen Lektionen plötzlich wie ausgelöscht waren. Er konnte nur noch auf die Bewegungen seines Gegners reagieren, auf das nächste Schwert, das der nächste Feind gegen ihn erhob. Aus einer kleinen Schnittwunde in seinem Unterarm, wo die Spitze einer feindlichen Klinge ihn getroffen hatte, sickerte warmes Blut, aber in der Hitze des Kampfes spürte er keinen Schmerz. Er wehrte einen Schlag ab; übersah eine Gelegenheit, zuzustoßen, und fluchte; drehte seine Klinge um, um den Schlag mit der Rückhand zu parieren. Denselben Fehler beging er nicht noch einmal. Die Lektionen, die Aurian ihm erteilt hatte, trugen schließlich doch Früchte und leiteten
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