Die Artefakte der Macht 03 - Flammenschwert
wandte ihren Blick ab. »Aber ich erinnere mich da an ein junges Mädchen, das vor nicht allzu langer Zeit dem Erzmagusch vertraut hat, und …«
»Aber das ist doch nicht dasselbe, Aurian!«
»Ach nein?« Aurians Lippen hatten sich zu einer schmalen Linie verzogen. »Ich habe doch gesehen, wie er die Sterblichen in Nexis verachtet hat. Hätte ich da nicht begreifen müssen, was für ein Mensch er war? Nach der Art, wie er dich behandelt hat, hätte ich da nicht wissen müssen, daß er von Grund auf böse ist? Als er versuchte, mir seinen Willen aufzuzwingen, hätte ich nicht spätestens da der Wahrheit ins Gesicht sehen müssen?«
Anvar fügte in Gedanken jene Worte hinzu, die sie ungesagt ließ: »Und wenn ich das getan hätte, dann hätte Forral nicht zu sterben brauchen …«
»Das war nicht deine Schuld«, wiederholte er hartnäckig.
»Genau!« erwiderte Aurian triumphierend. »Ich habe dich gebraucht, um das zu begreifen – und es besteht kaum ein Unterschied zwischen Rabes Situation und meiner – ganz zu schweigen von deiner eigenen.«
»Was?« fragte Anvar fassungslos.
Aurian ergriff seine Hand. »Denk doch mal nach, mein Liebster. Denk an den jungen Mann, der früher einmal ein Mädchen so sehr geliebt hat, daß er ihm alles andere geopfert hätte, obwohl sie versucht hat, seinen Tod herbeizuführen, und ihn im Stich gelassen hat, um zuerst einen reichen Kaufmann und dann einen mächtigen König zu heiraten.«
Anvar prallte zurück, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen. Der blinde Wahn seiner Liebe zu Sara war kein Thema, das er gerne erörterte. »Ich …«, begann er zu protestieren, aber es gab keine Antwort auf Aurians Anschuldigung. Anvar spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. Sie hatte recht – sosehr es ihn schmerzte, das zugeben zu müssen. Plötzlich sah er das geflügelte Mädchen in einem anderen Licht.
Aurian drückte entschuldigend seine Hand. »Rabe hat sich verändert«, sagte sie sanft. »Sie ist erwachsen geworden – genau wie wir. Sie weiß es jetzt besser. Sie hat für ihre Dummheit bezahlt, genauso wie du und ich. Verdient sie nicht auch eine Chance, ihre Fehler wiedergutzumachen?«
Anvar seufzte. »Ich verstehe, was du meinst – aber, Aurian, wie kannst du ihr vertrauen? Wie kannst du sicher sein, daß sie diese Gerüchte nicht selbst in Umlauf gesetzt hat, um uns loszuwerden? Hast du dich denn nie gefragt, ob sie die Harfe begehrt?«
Aurian zuckte mit den Schultern. »Ich vertraue ihr keineswegs blind – das wäre mehr als dumm von mir. Aber für den Augenblick bin ich bereit, die Dinge im Zweifelsfall zu ihren Gunsten auszulegen. Wenn die Situation so heikel ist, wie sie behauptet, dann hat Rabe mehr als genug zu tun mit ihren eigenen Schwierigkeiten.«
Anvar bohrte seine Stiefelspitze in die frisch umgegrabene Erde. »Das geschieht ihr ganz recht. Was mich betrifft, haben sich die Himmelsleute als genauso arrogant, undankbar und verräterisch erwiesen, wie die Legenden es behaupten. Sollen sie ruhig hier oben bleiben und sich gegenseitig an den Kragen gehen bis zum Ende aller Tage – aber …« Ein feuriges Blitzen stand in seinen Augen. »Wenn einer von ihnen versuchen sollte, mir die Harfe zu stehlen, dann wird er den Tag verfluchen, an dem er geboren ist!«
Aurian schloß ihn in ihre Arme. »Wenn jemand dumm genug wäre, das zu versuchen, dann müßte er es mit uns beiden aufnehmen!« Achselzuckend schob sie den Gedanken an die Geflügelten beiseite. »Wir haben alles, was in unserer Macht stand, für die Bürger von Aerillia getan. Jetzt wird es Zeit, daß wir unsere Gedanken wieder auf unsere Reise nach Norden konzentrieren. Außerdem kann es nicht mehr lange dauern, bis unsere Verbündeten die Xandim-Festung erreichen.«
Rabe, die mit kräftigen Schlägen ihrer kürzlich erst geheilten Schwingen auf den Gipfelpalast zuflog, blickte mit einer Mischung aus Stolz und Kummer hinunter auf den schimmernden Wald aus Türmen, Domen und Kuppeln. Sie war jetzt Königin, und all dies gehörte ihr – genauso wie die Lasten und die Verantwortung, die mit der Herrschaft einhergingen, rief sie sich ungehalten ins Gedächtnis und schämte sich erneut für das Verhalten ihres Volkes. Die grausame Herrschaft Schwarzkralles war zu Ende, und der unbarmherzige Winter, der so viele Geflügelte dahingerafft hatte, war bezwungen – aber um welchen Preis? Traurig blickte sie zu der zerstörten Ruine des Yinze-Tempels empor – er war ein schauerliches Bauwerk gewesen,
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