Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
»Mach dir nicht die Mühe, wieder aufzusteigen«, sagte sie, »wir machen hier halt.«
Der Dieb erwachte in einer kalten, grauen Welt. Er war in eine Decke und den Umhang gehüllt, den Hargorn ihm vor einigen Tagen im Einhorn beschafft hatte; er hatte sich seinen Lagerplatz inmitten eines Nests biegsamer Farne gesucht. Mit düsterer Miene dachte er an seinen bitteren Groll in der vergangenen Nacht, als Aurian ihn gezwungen hatte, das Gewächs zu sammeln. Jetzt erst begriff er, welchen Sinn die Sache hatte – sein Nest war Bett und Windschutz zugleich und weit angenehmer für seinen zerschundenen Körper als der kurze, harte Rasen des windgepeitschten Hügels.
Der Dieb rieb sich die brennenden Augen und rappelte sich hoch – oder versuchte es zumindest. Zu seinem Entsetzen war er so steif, daß er sich kaum rühren konnte. Ihm tat jeder einzelne Knochen im Leib weh – als hätte sich in der Nacht jemand zu ihm geschlichen und ihn im Schlaf mit einem Stock verprügelt. Elend und mutlos ließ Grince sich mit einem verzweifelten Wimmern wieder in den Farn fallen.
»Was hast du denn wieder? Na komm schon – du kannst nicht den ganzen Tag hier verplempern. Wir müssen bald aufbrechen.«
Als der Dieb aufblickte, hatte Hargorn sich über ihn gebeugt. Grince sah den betagten Krieger an und erklärte ihm, wohin genau er sich verziehen könne und was er tun solle, wenn er dort ankam.
Hargorn brach in höhnisches Gelächter aus. »Warum treibst du mich nicht selbst dorthin?« verspottete er ihn. »Du elende Memme, du abscheulicher kleiner Mistkerl.«
Mit einem Zornesschrei und geballten Fäusten sprang Grince auf die Füße – nur um festzustellen, daß Hargorn bereits zwei Meter weiter weg stand. Der alte Soldat hob beschwichtigend die Hände. »Immer mit der Ruhe, Grince – war nicht so gemeint. Aber sieh mal – ich wußte, daß du aufstehen kannst, wenn du es willst. Statt mich umzubringen, solltest du dir besser was zum Frühstück holen, Junge.« Dann drehte er sich um und ging kichernd davon.
»Armer, alter Grince, du siehst schrecklich aus.«
In seinem Zorn auf Hargorn hatte er gar nicht bemerkt, daß die Magusch näher gekommen war. »Hier«, sagte sie, »setz dich einen Augenblick, ich helfe dir.«
»Ich wage es nicht, mich hinzusetzen – vielleicht stehe ich dann nie wieder auf«, antwortete Grince verdrossen. Trotzdem folgte er der Aufforderung. Aurian kniete sich hinter ihn und legte ihm die Hände auf die Schultern. Auf der Stelle spürte der Dieb, wie eine prickelnde Woge von Wärme und Wohlsein seinen geschundenen Leib überschwemmte. Binnen weniger Sekunden, so schien es, waren die Schmerzen und die Steifheit wie weggeblasen.
»So«, sagte die Magusch lächelnd. »Das müßte dich eigentlich über den Tag bringen. Zweifellos wirst du heute abend ein paar neue Wehwehchen haben, aber ich kann dir immer wieder helfen – und es wird besser, das verspreche ich dir. In ein paar Tagen denkst du bestimmt schon, du wärst im Sattel geboren.«
»Ich – ich danke dir, Lady.« Zum ersten Mal in seinem Leben kamen Grince diese Worte mühelos über die Lippen.
Aurian legte ihm eine Hand auf den Arm. »Du hast mir gestern erzählt, du hättest keine Freunde. Nun, da hast du dich geirrt. Du hast Freunde hier, und ich bin sicher, du wirst noch andere finden, wenn wir erst in Wyvernesse sind. Aber Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit, weißt du. Du mußt den Leuten trauen, damit sie das Gefühl haben, dir trauen zu können. Du wirst bei den Nachtfahrern nicht stehlen müssen. Es sind großzügige Menschen, und sie werden dir geben, was du brauchst.«
Sie erhob sich und klopfte sich das Gras von den Knien. »Denk darüber nach. So, es ist noch etwas Taillin in der Kanne und Brot am Feuer. Iß schnell – Forral macht jetzt die Pferde fertig, und dann brechen wir gleich wieder auf.« Sie ging zu den Pferden hinüber und hinterließ einen sehr nachdenklichen Dieb.
Die Magusch und ihre Gefährten ritten noch drei Tage lang über die trostlosen, windgepeitschten Moore nach Osten. Endlich begann das Land sanft abzufallen, und als am vierten Tag die Sonne aufging, befanden sie sich in einer wilden, zerklüfteten Dünenlandschaft, in der ein Fluß auf seinem Weg hinunter zu einem Meeresarm ein nicht allzu tiefes Tal geschaffen hatte. Das Land war grau und eintönig, die einzige Vegetation scharfkantiges Gras und Dornengebüsch. Die schrillen, einsamen Rufe von Möwen und Wattvögeln hallten durch den
Weitere Kostenlose Bücher