Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
dafür, daß die Magusch nicht im Dunkeln einen falschen Schritt tat und in ihr Verhängnis stürzte.
Als sie spürte, daß der Weg langsam bergan ging, kniete Aurian kurz nieder und betastete den Boden. Als ihre Finger über kurzes, weiches Gras strichen, statt über das zähe, drahtige Dünengras, wußte sie, daß sie den heiligen Hügel erreicht hatte.
Die Magusch fühlte sich beklommen. Sie hatte nie erlebt, daß ihre Nachtsicht sie so im Stich ließ, und trotzdem war sie an diesem Ort vollkommen blind. Nach dem Donnern der Brandung zu urteilen, mußte ein steifer Wind von See wehen – ja, Aurian spürte selbst hier seinen kalten Druck auf ihrer linken Wange. Trotzdem regte sich vor ihrem Gesicht kein Lüftchen. Nun, was hast du erwartet, rief sie sich gereizt zur Ordnung. Du hast schon immer vermutet, daß dies eine der Pforten ist, an denen die Barriere zwischen den Welten dünn und zerbrechlich wird – und genau das brauchst und willst du jetzt. Dieses seltsame Gefühl beweist nur, daß du recht hattest.
»Aurian, ich kann nicht weiter mitkommen.« Shias Gedankenstimme war schroff vor Sorge. »Die Magie – ich habe noch nie etwas Derartiges gespürt. Sie bildet eine Barriere, die ich nicht durchschreiten kann.«
»Keine Angst«, sagte Aurian zu ihrer Freundin. »Wo ich hingehe, könntest du mir sowieso nicht folgen. Bleib einfach hier, wenn du so lieb sein willst, und warte auf meine Rückkehr.«
»Wenn du zurückkehrst«, murmelte die große Katze klagend. »Du brauchst mir nicht zu erzählen, daß dies absoluter Wahnsinn ist.«
»Du hast recht«, erwiderte Aurian energisch, »und ich erzähle dir auch nichts. Ich weiß es selber, aber ich muß es tun, Shia. Auf die eine oder andere Weise muß ich ihn wiedersehen. Sei vorsichtig, meine Freundin – bis bald.« Mit diesen Abschiedsworten verbannte Aurian ihre Gefährten kategorisch aus ihren Gedanken. Gerade jetzt mußte sie ihre gesamte Energie auf die bevorstehende Reise konzentrieren.
Als sie sich anschickte, den steilen Hügel zu erklettern, verwandelte sich das Gefühl der Beklommenheit in Furcht und schließlich in schieres Entsetzen, das mit jedem Schritt schlimmer wurde. Schon bald stellte sie fest, daß sie zitterte. Ihr Herz raste, und ihr Mund wurde trocken. »Es ist nichts als ein billiger Trick, um die Pforte zu bewachen«, sagte die Magusch sich fest. Sie nahm all ihre magischen Kräfte zusammen, um sich mit einem Schild zu beschirmen, und bezwang ihre Angst. Nach und nach bekam sie ihre anfängliche Panik unter Kontrolle, bis sie sie schließlich ganz bezwungen hatte.
Aurian erreichte das große, ebene Plateau, auf dem der Monolith stand, und machte den großen Stein allein mit Hilfe ihres Tastsinns ausfindig. Als ihre Finger die eisige Oberfläche berührten, traf sie das Entsetzen abermals wie ein Peitschenschlag, nur mit hundertfacher Wucht; aber diesmal war sie bereit. Sie riß den Erdenstab aus ihrem Gürtel, hob ihn hoch, als wolle sie einen körperlichen Schlag führen – und schrie laut auf, als ein scharfer, knisternder Energiestrom durch ihre Finger lief. Es war, als hätte der Stab selbst sich gegen sie gewandt und sie verbrannt. Plötzlich fühlte sich das Holz feucht an. Dann folgte ein kurzes Beben, als wären die Schlangen in ihrer Hand lebendig geworden – und das Artefakt entfiel den Fingern der Magusch und landete auf dem Rasen vor ihren Füßen.
Aurians Ärger raubte ihr jeden Schutz vor dem Grauen der Pforte. Es traf sie wie ein zerstörerischer Blitzschlag, der an ihrem Willen und ihrem Mut nagte und sie vom Gipfel des Hügels wegtrieb, weg von dem Stein. Aber ihre Furcht, den Stab zu verlieren, war größer als jedes Entsetzen, das eine unbekannte Macht hervorzurufen vermochte. Die taumelnde Magusch faßte sich wieder und hob mit einem verzweifelten Versuch, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, abermals ihren zerbrechlichen Schild. Die Anstrengung, sich gegen die Barriere der Furcht wieder hügelaufwärts zu schleppen, war wie der Versuch, sich gegen einen Hurrikan zu stemmen, aber Zoll um Zoll kroch Aurian weiter, bis der Stab wieder in ihrer Reichweite war.
Die Magusch zögerte, obwohl sie mit ihren Fingern das Holz fast schon berühren konnte. Heute nacht hatte sie den Stab zum ersten Mal wieder benutzt, seit sie seine Macht unter der Akademie mißbraucht hatte. Widersetzte sich das Artefakt jetzt ihrem Besitzanspruch? Würde es sie direkt zurückweisen? Sie griff nach dem Stab und hätte beinahe vor
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