Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
ihre Tochter genauso verschollen wie sein Sohn, tat sie ihm leid. Nichtsdestoweniger hatte sie einen großen Teil ihrer Einsamkeit selbst verschuldet – und er mußte sich vor einer Horde wütender und ungeduldiger Phaerie rechtfertigen. Es durfte Eilin nicht gestattet sein, sich dem Willen des Waldfürsten zu widersetzen. Er hatte die Absicht gehabt, vor ihr zu erscheinen und zu sagen: »Siehst du? Schon jetzt vermißt du den Luxus, den nur ich dir bieten kann.« Er konnte von Glück sagen, daß er beschlossen hatte, sich zuerst ein genaues Bild von der Situation zu machen, sonst hätte er wie ein absoluter Narr dagestanden.
Zähneknirschend und mit finsterem Blick sah Hellorin zu der Insel hinüber und beobachtete die geschäftige Häuslichkeit dort. Was hatte dieses elende Weibsbild in seiner Abwesenheit nur alles ausgeheckt? Und wer war dieser verfluchte Sterbliche? Er hatte erwartet, Eilin allein, gramerfüllt und verzweifelt vorzufinden – und sehr verletzlich. Er hatte mit ihr feilschen wollen – ihr seine Hilfe beim Wiederaufbau ihres Turmes anbieten wollen, falls sie die Phaerie wieder im Tal willkommen hieß. Aber jetzt, da die Magusch so beschäftigt, so energisch und überhaupt nicht mehr einsam schien, verließ ihn der Mut.
Der Herr der Phaerie beobachtete das Treiben auf der Insel, bis die langen blauen Schatten, die dem Sonnenuntergang vorangingen, ihre kräftigen Arme ausstreckten und das Tal umschlossen. Zum ersten Mal fragte er sich, warum er dieser Frau weiter nachstellte – und mußte zu seinem maßlosen Erstaunen feststellen, daß ihm ihre trotzige Gesellschaft und ihre scharfe Zunge mehr fehlten, als er das je für möglich gehalten hätte. Wie sehr sie ihn an Adrina erinnerte, D’arvans Mutter, die ebenfalls eine Magusch und bis zu diesem Tag seine einzige Liebe gewesen war.
Und gleichfalls zum ersten Mal in einem unglaublich langen Leben mußte Hellorin feststellen, daß er nicht immer seinen Willen durchsetzen konnte – daß es eine unbezähmbare Persönlichkeit gab, die ihm, wenn es ihr gefiel, bis zu ihrem letzten Atemzug trotzen und die Stirn bieten würde. Obwohl er ihr natürlich seinen Willen aufzwingen konnte, indem er sie an ihre Schuld ihm gegenüber erinnerte – eine Schuld, die er jederzeit einfordern konnte –, wollte er sie sich doch auf keinen Fall zur Feindin machen. Dafür hatte er ihre Kämpfe und ihre regelmäßigen Wortgefechte viel zu sehr genossen. Außerdem begriff er – obwohl Gewissen und Reue bisher Fremdworte für ihn gewesen waren –, daß sein gestriges Benehmen die Magusch entsetzt und abgestoßen haben mußte. Er wollte sich bei ihr auf keinen Fall weiter ins Unrecht setzen.
Zum ersten Mal gestand Hellorin sich eine harte und schmerzliche Wahrheit ein – daß er nämlich trotz all seiner Macht den Konsequenzen seiner eigenen Taten nicht entrinnen konnte. Wenn er gestern Eilins verzweifelte Bitten nicht ignoriert hätte, würde sie ihm heute nicht aus dem Weg gehen – und er hätte vielleicht auch seinen Sohn nicht verloren. Die Wiederentdeckung der Xandim war ein zu hoher Preis für das, was er verloren hatte. Nun waren die Pferde alles, was seine Rückkehr in die Welt der Sterblichen ihm eingebracht hatte – und er würde auch weiter grimmig an ihrem Besitz festhalten.
Nun denn, so sei es. Hellorin richtete sich auf. Es war eine bittere Medizin, die er da zu schlucken hatte, aber er würde sich wohl seinen eigenen Fehlern stellen müssen – und später herausfinden, wie er verlorenen Boden wiedergutmachen konnte. Wenn er sich der Magusch aufzwang, würde ihm das nichts als Scherereien einbringen. Früher oder später würde Eilin seine Hilfe brauchen – und bis dahin mußte er sich gedulden. In der Zwischenzeit – wer brauchte schon Eilins kostbares Tal? Statt dessen würde er eine Stadt erbauen, ein prächtiges und wunderbares Heim für die Phaerie.
Diese Idee war in der vergangenen Nacht geboren worden – auf den trostlosen, ungastlichen Mooren fernab des Tals –, und seitdem nahm sie in seinen Gedanken immer mehr Gestalt an. Während Hellorin seine ersten Pläne schmiedete, spürte er, wie ihm das Herz im Leibe klopfte. Nein wirklich, eine solche Herausforderung war ihm seit Äonen nicht mehr begegnet! Er erinnerte sich an einen Ort hoch oben im Norden, jenseits des Tales, in den hohen, windgepeitschten Bergen, in die sich kaum je ein menschliches Wesen verirrte. Dort gab es eine tiefe, breite Felsspalte zwischen den Armen eines
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