Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
herumzudrehen.
Als die Gestalt mit den wilden, leer blickenden Augen, die sie einst als ihren Vater gekannt hatte, turmhoch über ihr aufragte, kreischte Alissa laut auf. Er schwang das bluttropfende Messer hoch über seinen Kopf und ließ es auf sie herabsausen, aber genau in dem Augenblick duckte sie sich und sprang zur Seite. Dann ergriff sie den einzigen Fluchtweg, der ihr noch offenstand – sie rannte den kurzen Flur hinunter, der zur Bäckerei führte, obwohl sie wußte, daß auch dort die Außentür versperrt sein würde. Bern, der ihr dicht auf den Fersen war, glitt bei einer unbedachten Bewegung mit seinen blutdurchtränkten Stiefeln auf den blankgewienerten Fliesen des Korridors aus. Alissa hörte ihn fluchen und wußte, was geschehen war, als sie den dumpfen Aufprall seines Sturzes hörte. Das verschaffte ihr einen Augenblick – einen einzigen Augenblick –, um sich zu verstecken.
Um Luft ringend rannte das Kind in die Bäckerei und sah sich verzweifelt nach einem Versteck um. Der einzige Ort, der ihr Zuflucht zu bieten schien, war der große Ofen, in dem das Feuer mittlerweile erloschen war. Ohne länger darüber nachzudenken, lief Alissa quer durch den Raum und kletterte in den nach Brot duftenden Backofen hinein. Dann schlug sie gerade rechtzeitig die Tür hinter sich zu und kauerte sich in der Dunkelheit zusammen. In ihren Armen lag immer noch die Stoffpuppe; das kleine Mädchen wagte kaum zu atmen.
Eliseth, deren Geist Berns Gedanken wie ein Parasit umklammert hielt, benutzte die Augen des Bäckers, um den Raum abzusuchen. Dann runzelte sie verärgert die Stirn. Dieses verfluchte Kind! Wo zur Hölle steckte es? Sie drückte die Türklinke herunter. Sie war nach wie vor versperrt. Nun, in diesem Fall konnte das elende kleine Balg nicht weit gekommen sein. Zuerst dachte Eliseth an die Wandschränke, bis sie Berns Gedächtnis entnahm, daß sie zu gut mit Vorräten bestückt waren, um genug Platz für ein Versteck zu bieten – dann fiel ihr Blick auf die Öfen. Einer von ihnen war nicht groß genug für ein Kind, aber der andere …
Der Bäcker bewegte sich wie ein Schlafwandler: Er war bei vollem Bewußtsein, verfügte aber nicht über einen eigenen Willen. Er machte keine Anstrengungen, gegen die Magusch zu kämpfen, als sie ihn durch den Raum zu dem Ofen führte und ihn die schwere Tür mit einem Besenstiel verkeilen ließ. Die Asche war noch warm, und in Windeseile war ein neues Feuer entzündet. Während Bern immer mehr Holz aufschichtete, hörte Eliseth Alissa schreien. Um ihre Macht über den Bäcker auf die Probe zu stellen, zwang Eliseth ihn, dazustehen und den Todesqualen seiner kleinen Tochter zu lauschen. Es dauerte sehr, sehr lange, bis die Schreie verstummten.
Nachdem sie in Berns Geist Anweisungen hinterlassen hatte, die ihn für eine Weile unbeweglich machen würden, durchstöberte Eliseth das Haus und suchte sich Dinge zusammen, die ihr vielleicht von Nutzen sein konnten. Sie nahm Berns kleinen Goldvorrat sowie Decken, Laken, Vorräte und alles andere, was sie in der Bäckerei finden konnte und womit sich das Leben in der verfallenden Akademie behaglicher gestalten ließ. Traurigerweise war die Frau des Bäckers viel kleiner gewesen als die Magusch, so daß ihre Kleider für sie nutzlos waren, aber Eliseth nahm mehrere Paar Strümpfe, Handschuhe und einen dicken Wollumhang. Obwohl auch dieser natürlich zu kurz war, würde er sie doch vor der schlimmsten Kälte bewahren, bis sie sich einen anderen Mantel verschaffen konnte.
Dann häufte Eliseth ihre Beute auf dem Boden neben der Hintertür auf und kehrte ungesehen und unbehindert auf dem schnellsten Weg in die Akademie zurück. Sobald sie dort angekommen war, streckte sie ihr Bewußtsein nach Bern aus, denn sie konnte nicht gleichzeitig ihren eigenen Körper und den eines anderen beherrschen, so daß sie gezwungen gewesen war, den Bäcker in der Stadt zu lassen. Es war jedoch bei weitem einfacher, ihn zu finden, als die Magusch erwartet hatte. In den dumpfigen, verwahrlosten Küchen der Akademie entzündete Eliseth ein Feuer, füllte dann den Kelch mit Wasser und hockte sich vor den Herd, um im Lichtschein der flackernden flammen in den Becher zu blicken. Durch die Herrschaft der Magusch über den Gral war ihre Verbindung zu dem Bäcker so stark, daß sie förmlich zu ihm hingezogen wurde. Sie brauchte nur an Bern zu denken, da sah sie ihn schon im Wasser aufschimmern, wie er den Leichnam seines einzigen Sohns aus einem
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