Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
plötzlich und mit einem erstickten Aufstöhnen scharf die Luft ein – um einen Augenblick später unbeholfen aufzuspringen. »Lady – das war ich nicht! Ich war es nicht!« schrie er. Dann blinzelte er, und ein jähes Verstehen kehrte in seine Augen zurück. »Was ist passiert?« fragte er und vergaß in seiner Aufregung ganz, die Magusch mit dem geziemenden Respekt anzusprechen. »Was habe ich getan?«
Eliseth, der bereits eine wütende Erwiderung auf der Zunge lag, schluckte ihre halb formulierte Antwort herunter. Als ihr klar wurde, daß Bern nach seinen ersten gekreischten Unschuldsbeteuerungen kein einziges Wort laut gesprochen hatte, weiteten sich ihre Augen erschrocken. Sie konnte in seinen Geist blicken!
Sobald sie begriff, wie das vor sich ging, konnte sie viel klarer sehen und sammelte ihre ganze Konzentration. Dort, hinter dem unscharfen Tumult der Gedanken des Sterblichen, lag die tiefe Verwirrung des Bäckers vor ihr, während er vergeblich versuchte, sich darauf zu besinnen, was in den unheimlichen, leeren Minuten geschehen war, in denen er bewußtlos auf dem Boden gelegen hatte. Eliseth sah ganz deutlich sein Entsetzen und seine Angst, als er verzweifelt zurückdachte und ihm schließlich wieder einfiel, daß jemand versucht hatte, die Magusch zu ermorden – und daß dafür nur eine einzige Person in Frage kam.
Alissana! Eliseth nahm das Bild direkt aus den Gedanken des Sterblichen. Also hatte Berns verfluchte Ehefrau die Dreistigkeit besessen, ein Attentat auf sie zu wagen! Der Zorn der Magusch kochte über und wurde schier unerträglich – bis sie plötzlich mit einem erschreckenden Perspektivenwechsel feststellte, daß sie sich ansah. Eliseth keuchte und riß die Hände vor die Augen – aber es waren nicht ihre Hände, und es waren auch nicht ihre eigenen Züge, die sie unter ihren Fingern spürte. Sie sah den Raum durch Berns Augen!
Instinktiv prägte Eliseth Berns schwachen und feigen Gedanken ihren Willen auf. Dann spürte sie, wie diese Gedanken Sandkörnern gleich durch das Stundenglas ihres Geistes sickerten. Das Gefühl war ein ganz anderes, als der Besitz eines fremden Leibs, wo die Persönlichkeit des Opfers beiseite geschoben wurde und der Eindringling die Kontrolle übernahm. In diesem Falle waren die Gedanken des Bäckers immer noch seine eigenen – die Magusch beherrschte sie lediglich, als sei sein Geist ein rastloses Pferd, das sie festhalten und mit den Zügeln ihres eigenen Willens leiten konnte. Mit einem Beben freudiger Erregung wurde ihr klar, daß Bern nicht die leiseste Ahnung von ihrer Gegenwart in seinem Körper hatte. Das Gefühl der Kontrolle war überwältigend, und Eliseth fragte sich, wie weit ihre Herrschaft reichen mochte. Noch ein wenig zaghaft zuerst, begann sie die Grenzen ihrer neu entdeckten Macht zu erproben.
Für Eliseths eigenen Körper bestand nicht die leiseste Gefahr – sie setzte ihn vorsichtig auf einen Stuhl, wo ihm nichts geschehen konnte. Schon bald stellte sie fest, daß sie lediglich die sogenannten höheren Funktionen von Berns Geist zu kontrollieren brauchte, die Reaktionen seines Körpers erfolgten dann automatisch. Eine Weile amüsierte sie sich damit, ihn durchs Zimmer gehen und einfache Tätigkeiten verrichten zu lassen. Danach beschloß sie, ihre Macht über die Marionette einer Probe zu unterziehen. Wie eine Spinne, die ihrem Opfer auflauerte, ritt sie durch das Netz von Berns Gedanken und schickte ihn zur Treppe – und hinauf zu den Räumen, in denen seine Familie schlief.
5
Der Untote
Die kleine Alissa, so benannt nach ihrer Mutter, war im Dunkeln erwacht. Sie hatte in dieser Nacht unruhig geschlafen, denn die Anwesenheit der Frau mit den kalten Augen und dem silbernen Haar, die bei ihnen wohnte, bescherte ihr Alpträume. Obwohl sie für gewöhnlich kein furchtsames Kind war (sie war schließlich ein großes Mädchen von immerhin sechs Jahren – und mußte sich um ihren kleinen Bruder Tolan kümmern), hatte diese Fremde etwas an sich, das in Alissa den Wunsch weckte, wegzulaufen und sich zu verstecken. Sie war dankbar für die tröstliche Gegenwart ihrer Mutter, die heute, da ihre Besucherin das beste Schlafzimmer für sich beanspruchte, auf einem Strohlager im Kinderzimmer schlief.
Da war es wieder, das Geräusch, das Alissa geweckt hatte – die verstohlenen, schlurfenden Schritte auf der Treppe. Zitternd kauerte sich das kleine Mädchen tiefer in seine Decken und preßte seine Puppe fest an sich. Alissa hörte
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