Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
nicht, wie viele Stunden sie am Bett ihres Vaters gesessen hatte, aber vor dem Fenster war es schon lange dunkel geworden, und ihre Augen fühlten sich wie brennende Kohlen an. Dulsina saß ihr zitternd vor Müdigkeit gegenüber, und von Zeit zu Zeit kam Benziorn herein, um seinen Patienten zu untersuchen, den Kopf zu schütteln und mit einem Seufzer wieder fortzugehen. Vannor lag kalt und still da, als sei er bereits tot. Er hatte die Augen halb geöffnet, aber sein Blick war glasig und sein Atem so flach, daß man ihn kaum wahrnehmen konnte. Seine schlaffe Hand fühlte sich unter Zannas Fingern kühl und feucht an.
Das Warten war unerträglich – dieses Wissen, daß es nur eine Frage der Zeit sein konnte. Beinahe wünschte Zanna, es wäre vorüber, um ihrem Vater und sich selbst weiteres Leiden zu ersparen. Aber andererseits, wie konnte sie, solange er lebte, die Hoffnung auf ein Wunder aufgeben? Sie erinnerte sich an die Zeit, als sie ihn aus den Fängen der Magusch gerettet und durch das pechschwarze Labyrinth der Bibliotheksarchive und die gräßlich stinkenden Abwasserkanäle in Sicherheit gebracht hatte. Jetzt steuerte Vannor auf eine noch dunklere Straße zu – und diesmal schien es keine Möglichkeit für sie zu geben, ihn wieder nach Hause zu bringen.
Sie mußte kurz eingenickt sein – Zanna zuckte schuldbewußt zusammen, als ihr Schlaf gestört wurde. Schwaches, graues Tageslicht schimmerte am Fenster auf, und von unten hörten sie leises Stimmengewirr. Was war nun schon wieder passiert? Zanna runzelte die Stirn. Warum ließen Tarnal und Parric das zu? Hier oben lag ein Kranker – er sollte nicht gestört werden. Nach ein paar Sekunden öffnete sich die Tür, und Tarnal schaute ins Zimmer, um Zanna und Dulsina zu sich zu winken. »Ich dachte, ihr solltet es wissen«, flüsterte er. »Da ist jemand an der Tür – dem Aussehen nach ein altes Weib –, sie ist ganz in Schals und dicke Tücher gehüllt. Sie sagt, sie sei eine Kräuterfrau und schwört, sie hätte ein altes Heilmittel, das sie von ihrer Großmutter übernommen habe und mit dem sie Vannors Leben retten könne. Es ist wahrscheinlich nichts als Unfug, aber …« Er hob die Hände und zuckte mit den Schultern. »Was können wir dabei verlieren? Die Sache ist nur, daß Benziorn fuchsteufelswild ist – er sagt, sie sei eine Betrügerin und es gebe kein Heilmittel. Seiner Meinung nach hätte die Alte es nur auf eine Belohnung dafür abgesehen, daß sie’s überhaupt versucht. Er besteht darauf, daß wir sie wegschicken.«
Zanna und Dulsina sahen einander an. »Schick sie rauf«, antworteten sie einstimmig.
Das Kräuterweib bestand darauf, im Zimmer allein gelassen zu werden, während sie ihr Werk verrichtete. Dieser Wunsch erfüllte Zanna mit tiefem Unbehagen, aber dann dachte sie: Soll sie doch. Welchen Schaden kann sie ihm in diesem Stadium noch zufügen? Dann ging die alte Frau hinein und schloß die Tür fest hinter sich zu. Den anderen blieb nichts weiter übrig, als abzuwarten – und zu beten. Dulsina, Zanna und Tarnal blieben mit einem beklommenen Gefühl der Angst draußen vor der Tür stehen; nach kurzer Zeit gesellte sich schließlich auch ein bleich und angespannt aussehender Parric zu ihnen. Er brachte ein Tablett mit Bechern und einer Flasche starken Weins die Treppe hinauf und stellte es auf einen kleinen Tisch an der Wand. Sie warteten, sprachen nur wenig und nippten freudlos an dem warmen Weinbrand, während Benziorn unten im Flur auf und ab ging, leise vor sich hin fluchte und gelegentlich mit finsteren Bücken Vannors geschlossene Tür streifte.
Eliseth trat, den Korb mit dem Gral unter einem Tuch verborgen, aus Vannors Schlafgemach und lachte innerlich, als sie die ängstlichen Gesichter draußen vor der Tür sah. Dank ihrer Illusion eines alten Weibes hatten diese Narren hier keine Ahnung von ihrer wahren Identität. Alles war nach Plan verlaufen. Sie hatte sich mit einer weiteren Dosis des Giftes des Kaufmanns entledigt und ihn dann mit Hilfe des Grals wieder ins Leben zurückgerufen. Er würde sich an das, was sie getan hatte, nicht erinnern. Auch wenn er es noch nicht wußte, gehörte Vannor nun ihr.
Die Magusch riskierte einen bösartigen Seitenblick auf Zanna, während die junge Frau eifrig vortrat. »Was ist geschehen, gute Frau? Wie geht es meinem Vater?«
Eliseth riß sich zusammen und zwang ihren Zügen die Illusion eines zahnlosen Lächelns auf. »Seid beruhigt, junge Lady, alles ist gut. Euer Vater war
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