Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
Leben hatte noch gar nicht richtig begonnen, und jetzt war es schon vorüber.
Zanna schluckte ihre Tränen herunter. Sie war fest entschlossen, sich in dieser Krise nicht von ihren Gefühlen mitreißen zu lassen. Wenn nur Tarnal an ihrer Seite gewesen wäre, um ihr Trost zuzusprechen – aber wie gewöhnlich hatte er das Kommando übernommen. Sie konnte im Hintergrund seine Stimme hören, wie er den Männern Befehle erteilte und zur selben Zeit versuchte, den schnellsten Kurs auszurechnen und die Segel so zu setzen, daß er dem stürmischen Wind das Bestmögliche abnötigen konnte. Sein Eifer war überflüssig – seine Männer waren schon lange zusammen und wußten, was nötig war –, aber Zanna verstand, daß Tarnal sich beschäftigen wollte, damit er nicht an das dachte, was sie möglicherweise in Nexis erwartete. Zanna dagegen fand diese Ablenkung nicht, sie sehnte sich verzweifelt nach ihrem Ehemann, nach dem Trost und der Stütze seiner liebevollen Gegenwart.
Und immer weiter jagte das Schiff, ein grauer Schatten in der nachtschwarzen See. Der Wind sang in den Segeln, und weiße Gischt spritzte auf, wo der Bug sich mit Macht seinen Weg durch die wilden Wellen bahnte. Zanna, die außerstande war, ihre Ungeduld zu bezähmen, wandte sich von der Reling ab. Dann begann sie, ohne sich um das Risiko ihres Tuns zu scheren, auf dem schräg geneigten Deck auf und ab zu laufen.
Schnell! Ihre Gedanken drängten das Boot unerbittlich weiter. Oh, schnell! Wir müssen rechtzeitig ankommen!
Wie konnte das geschehen, jetzt, wo alles so gutzugehen schien? Die sieben Jahre seit der Schlacht im Tal waren gute Jahre gewesen. Ist das unsere Schuld? fragte Zanna sich, während sie weiter auf und ab lief. Haben wir uns zu sicher gefühlt? Als Vannor mit der Nachricht, daß sowohl Aurian als auch Anvar aus der Welt verschwunden waren, zu den Nachtfahrern zurückgekehrt war, schien das eine Katastrophe zu sein, die jedes erträgliche Maß überstieg. Zanna und die anderen Freunde der beiden Magusch hatten lange und tief um sie getrauert, und Parric war untröstlich gewesen. Vannor hatte mehrere Tage gebraucht, um sie davon zu überzeugen, daß sie nicht nur ihre Freunde verloren hatten, sondern auch ihre Feinde. Eliseth war denselben Weg gegangen wie Aurian und Anvar. Später kam von Yanis’ Verbindungsleuten in Nexis dann die Nachricht, daß auch der Erzmagusch verschwunden war.
Beschämt erinnerte Zanna sich daran, wie sehr sie ihrem Vater gegrollt hatte, weil dieser nach Macht strebte, obwohl Aurian erst vor so kurzer Zeit von ihnen gegangen war. Er hatte jedoch recht gehabt. Die Menschen in dem führerlosen Nexis hatten dringend jemanden gebraucht, der das Ruder ergriff. Mit Sangras Hilfe und mit brutaler Unnachgiebigkeit hatte Vannor den trauernden Parric wieder zu Verstand gebracht und den Kavalleriehauptmann sowie die Rebellen für seine Zwecke eingespannt. Yanis hatte Schiffe gestellt und die bewaffnete Unterstützung der Nachtfahrer angeboten – und binnen eines Monats war das ehemalige Oberhaupt der Kaufmannsgilde zum Hohen Herrn von Nexis geworden.
Und dann hatten die Dinge sich langsam gewandelt. Nun, da die Magusch fort waren, fielen die Schatten von Ehrfurcht und Angst von den Nexianern ab, und unter Vannors gütiger Herrschaft war ein neues Zeitalter erblüht. Alles, was von Miathans gehorteten Vorräten zugänglich war, hatte man aus der Akademie weggeschafft, und Parric und Sangra hatten in aller Eile neue Rekruten für die Garnison ausgebildet. Straßenräuber und Wegelagerer waren unschädlich gemacht worden, so daß die Leute auch des Nachts einigermaßen sicher durch die Straßen von Nexis gehen konnten. Die gut ausgebildeten Soldaten, die Vannor den Rücken stärkten, hatten die gierigen Kaufleute, die die Nexianer ausbeuteten, zu einer menschenfreundlichen Haltung ›überreden‹ können. Man hatte für die Armen und Besitzlosen Häuser gebaut, und die Bettler waren von den Straßen verschwunden. Jarvas’ Zuflucht wurde als Asyl für die Alten und Bedürftigen wiederaufgebaut, und unter der Anleitung eines ungewöhnlich nüchternen Benziorn hatte man sogar eine Schule für Heiler dort errichtet.
Vannor hatte den Bürgern von Nexis Jahre des Friedens und des Wohlstand geschenkt – und doch war Zanna sich der Tatsache bewußt, daß nicht jeder dem neuen Hohen Herrn von Nexis und dem, was er bewirkt hatte, wohlgesonnen war. Das große Desaster von Vannors Herrschaft war sein Unvermögen gewesen, etwas
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