Die Artefakte der Macht 04 - Dhiammara
stehenbleiben.« Sie wollte gerade die Arme um ihn schlingen, als sie in Anvars Gesicht blickte und etwas in ihr zu zerbrechen schien. Hastig wandte sie sich ab. »Komm weiter«, sagte sie leise. »Laß uns von hier verschwinden. Die Todesgeister werden zwar bewegungsunfähig sein, und wenn sie die ganze Zeit über hier waren, sind sie gewiß auch harmlos, aber trotzdem jagen sie mir eine Gänsehaut ein.«
Forral nickte. »Das ist das erste vernünftige Wort, was ich von dir höre, seit wir hier runtergekommen sind.«
Shia hatte mit der Nase die Tür abermals einen Spalt breit geöffnet und sah sich die Todesgeister durch die schmale Öffnung neugierig an. »Also, das sind die Geschöpfe, die deine Alpträume heimsuchen«, sagte sie zu Aurian. Ihre Stimme klang ein wenig verwirrt.
»Du kannst mein Wort darauf nehmen – sie sind weit erschreckender und grausamer, wenn sie sich bewegen und fressen können«, versicherte die Magusch ihr.
Sie wollten gerade umkehren, als sie die Stimme hörten.
Aurian blieb wie angewurzelt stehen. »Habt ihr das gehört?« fragte sie ihre Freunde. »Was ist das …?«
Der Schwertkämpfer sah sie verwirrt an. »Was sollen wir gehört haben?«
Bestürzt sahen sie einander an. »Etwas, das anscheinend nur mit den Magusch reden kann«, flüsterte Aurian.
Forrals Hand fuhr zu seinem Schwert. Die Magusch ließ ihm Zeit, es zu ziehen, und dann, als sich das Echo des aus der Scheide gleitenden Stahls gelegt hatte, hob sie, Schweigen gebietend, die Hand. Aber als sie dann lauschte, durchdrang kein anderer Laut als ihr eigenes Atmen die Stille.
»Könnt ihr das hören, Shia, Khanu?« erkundigte sich Aurian hoffnungsvoll.
»Es tut mir leid«, sagte Shia. »Ich höre nichts außer uns.«
»Ich auch nicht«, fügte Khanu hinzu.
Die Stimme war jedoch nicht verstummt. Die Magusch konnte sie immer noch in ihrem Kopf hören – einen dünnen, kalten, schrillen Ruf. Es waren keine deutlich erkennbaren Worte, aber ihr Tonfall war eindeutig ein Flehen, ein Rufen, ein Locken. Aurian zitterte. »Es will uns«, murmelte sie. »Es will, daß wir ihm folgen.«
»Was? Du machst Witze!«
»Nein, wirklich«, beharrte Aurian. »Nur die Götter wissen, was es ist, aber es kann kein Todesgeist sein, sonst hätte es mittlerweile gewiß eine Möglichkeit gefunden, seine Kameraden zu befreien. Außerdem, wenn es uns etwas Böses wollte, warum hat es uns dann nicht angegriffen, als wir vorhin im Dunkeln hilflos waren? Das wäre der geeignetste Augenblick gewesen.«
»Ich hoffe, du hast recht«, meinte Forral, »weil du nämlich für diese merkwürdige Vorstellung unser Leben aufs Spiel setzt.«
Aurian hörte ihn kaum. Sie war bereits weiter den Flur hinunter gegangen, um dem Phantomruf zu folgen. Sie bemerkte kaum, daß die anderen ihr widerstrebend folgten und daß Forral düster vor sich hin fluchte.
Die Magusch ging weiter durch den Korridor, um dem unwiderstehlichen Murmeln dieses Rufs zu folgen, der nicht nachließ und auch niemals in seinem Tonfall schwankte, es sei denn, sie versuchte stehenzubleiben oder in einen der Räume längs des Korridors einzutreten. Wenn sie die falsche Richtung einschlug, verwandelte sich das unverständliche Wispern in ein kreischendes Wimmern, das Aurians Herz hämmern ließ, als wolle es in ihrer Brust bersten. Dasselbe passierte, wenn sie versuchte umzukehren. Schon bald hatte sie keine andere Wahl mehr als weiterzugehen.
Aurian spürte, daß Forral sich Sorgen machte. Sein Gesicht – Anvars Gesicht –, das von dem bleichen Maguschlicht beleuchtet wurde, sah fahl und kränklich aus, und seine Augen lagen in tiefen, unergründlichen Schatten. »Aurian, würdest du dieser Sache bitte ein Ende machen?« zischte er ihr zu.
Die Magusch schüttelte den Kopf. »Es tut mir leid, Forral – ich kann nicht. Es ist jetzt zu spät – wenn ich ihr nicht folge, wird die Stimme mich in den Wahnsinn treiben.«
Es war nicht weiter schwierig, den richtigen Raum zu finden – Aurian brauchte lediglich dem lockenden Ruf zu folgen, der jetzt mit zunehmender Dringlichkeit in den Tiefen ihres Geistes wisperte. Ungeachtet möglicher Gefahren eilte sie weiter, magisch angezogen von dem Zauber des Rufenden; Forrals zunehmend verzweifelte Versuche, sie aufzuhalten, ignorierte sie vollkommen. Ihr Maguschlicht strömte hinter ihr her und zog einen Kometenschwanz winziger Funken nach sich. Die Stimme wisperte immer lauter und drängender. Obwohl Aurian sich nicht erklären konnte, woher sie
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