Die Asche der Erde
hatte sich das Hirn nach einer Erklärung zermartert und etwas viel Komplizierteres vermutet. Beeindruckt und dankbar verstaute er den Zettel wieder unter seinem Hemd. Das Rezept würde ohne die fehlenden Teile nutzlos sein, aber wenigstens hatte ein wichtiges Puzzlestück seinen Platz gefunden.
Als er sich der Stalltür zuwenden wollte, hielt Mette ihn zurück. Sie stand auf und nahm ihren bunten Wollschal ab. »Den habe ich gerade erst gestrickt«, sagte sie und legte ihn Hadrian um den Hals. »Du brauchst ihn mehr als ich. Der Winter ist dieses Jahr früh dran.«
Draußen verbarg Hadrian sich im Schatten der Gasse. Es dauerte fast eine Stunde, bis ein hochgewachsener Mann den Stall betrat und nach fünf Minuten wieder zum Vorschein kam. Hadrian folgte ihm den Hügel hinunter und war froh, dass der Seewind mittlerweile für dichtes Schneetreiben gesorgt hatte. Der Drogendealer beeilte sich, ins Trockene zu kommen, und lief auf direktem Weg zu der Schmugglerwohnung, in der Jansen gestorben war.
Die alte Mühle wirkte im Mondschein wie ein Spukhaus. Als Hadrian die Tür öffnete, huschten kleine dunkle Schemen über den Boden. Er tastete sich an der Wand entlang bis zu der Laterne vor, entzündete sie und stieg die schmale Treppe hinauf. Der Vorratsbehälter war tatsächlich mit alten Hanfsäcken gefüllt. Alle waren leer, nur der Letzte enthielt einen rechteckigen Gegenstand.
Hadrian bewunderte im trüben Licht das gerahmte Gemälde, eine meisterhafte Darstellung von Gänsesägern, die über das Wasser rannten, um sich in Richtung der aufgehenden Sonne in die Luft zu erheben. Dann schaute er zumFenster hinaus auf den Mond, der hell genug schien, dass Hadrian die Waldpfade benutzen konnte. Er steckte das Bild zurück in den Sack. Es war an der Zeit, dass Jonah sein Geschenk erhielt.
Eine Stunde später legte er das Gemälde auf den Zeichentisch in Jonahs Esszimmer und schilderte das rätselhafte Interesse von Fletchers Männern. Jori hörte aufmerksam zu. Dann drehte sie das Bild um, zog ein Messer aus der Tasche und hob mit der Klinge die Rahmenrückwand an. Dahinter waren zwei Blatt Papier versteckt. Hadrian breitete sie vorsichtig auf dem Tisch aus und stellte mehrere Kerzen hinzu. Dann zeigte er jeweils auf die obere rechte Ecke. »Seite dreiunddreißig«, sagte er, »und Seite siebenundachtzig.« Sie waren aus einem großformatigen Notizbuch herausgetrennt worden und beide mit handschriftlichen Einträgen gefüllt.
Jori nahm die erste Seite und las vor. »Franklin Bishop. Alter sechsundfünfzig. Todesursache Herzstillstand.«
»Jonathan Hampden«, las Hadrian von dem zweiten Blatt ab. »Alter neunundvierzig. Todesursache Herzstillstand.«
Das Datum der ersten Seite lag mehr als ein Jahr zurück, das andere drei Monate danach.
»Wieso?«, fragte Jori. »Wieso würde jemand die Untersuchungsbefunde von Männern stehlen, die eines natürlichen Todes gestorben sind?«
»Und was noch wichtiger ist, warum sollte Fletcher sich dafür interessieren?«, gab Hadrian zu bedenken. »Wen will er schützen?« Ergab sich hieraus endlich ein Hinweis auf die unbekannten Drahtzieher in Carthage?
Sie setzten sich und lasen die vollständigen Berichte laut vor. Beide Männer hatten nach einer ausgiebigen Mahlzeit samt reichlich Alkohol einen Herzinfarkt erlitten, und zwar im selben Hafenrestaurant. Der eine war ein Schiffbauer gewesen, der andere ein Müller. Zwischen ihnen hatte kein ersichtlichesVerwandtschaftsverhältnis bestanden, und die Todesursache war von jeweils einem anderen Arzt festgestellt worden.
Hadrian las noch einmal die Namen. »Ich habe die beiden gekannt«, wurde ihm schlagartig klar. »Nun ja, jedenfalls wusste ich, wer sie waren. Nämlich die Leiter ihrer jeweiligen Innung.«
Das kleine Haus stand einen Block vom Krankenhaus entfernt und war von Gärten umgeben. In manchen wuchsen ausschließlich Kräuter, andere bestachen durch die Schönheit ihrer Blumen. Spät blühende Astern und Sonnenhüte wiegten sich im Wind. Die Kälte ließ die letzten goldenen Blätter des Holunders schlaff herabhängen. Hadrian wartete in der Dunkelheit eine Weile ab und beobachtete das Grundstück. Dann umrundete er es in einigem Abstand und folgte den Spuren im flachen Schnee, die von der Straße zu mehreren immergrünen Sträuchern neben dem Haus verliefen. Er hockte sich hin und musterte die zertretene Stelle, wo jemand gestanden und fröstelnd mit den Füßen aufgestampft hatte. Auch das halbe Dutzend
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