Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
sich in den zurückliegenden Jahrzehnten immer weiter auf die Wirtschaftselite reduziert. Nun verliert sie auch auf diesem, ihrem letzten Terrain an Boden. Thomas Perry wundert das nicht. »Die Vermögenden wollen ausdrücklich nicht Elite sein.« Das ist die zentrale Botschaft aus Perrys zahlreichen Reicheninterviews. Eine Verantwortung für die Gesellschaft empfinden nur wenige. »Die Oberschicht gibt der Masse der Gesellschaft keine Orientierung«, sagt Perry.
In der alten Klassengesellschaft war die Oberschicht eine treibende Kraft in allen Bereichen, auch in der Kultur. Heute nicht mehr. Modetrends werden im Ghetto gesetzt. Populäre Musik entsteht in der Subkultur. Künstler, Schriftsteller oder Filmemacher sind fast durchweg Kinder der Mittelschicht. Die boomende Kreativitätsindustrie hat kaum Verbindungen in die Welt des Geldes. Reiche Kunstliebhaber fördern nicht die Kunst, sondern spekulieren mit Kunstwerken wie mit Aktien. Perry folgert daraus: »Kulturelle Impulse kommen meist nicht von ganz oben.«
Es ist Zeit, zu resümieren und zu fragen: Welche Funktion für das Gemeinwesen erfüllt die Oberschicht überhaupt noch? Sie ist keine Führungsschicht, keine Leitschicht. Statt öffentlich aufzutreten versteckt sie sich. Sie ist keine moralische Instanz und gibt keinerlei Orientierung. Aus der Funktionselite des Staates hat sie sich zurückgezogen. Politische, intellektuelle oder kulturelle Impulse gehen von ihr nicht aus. Ihre Behauptung, sie sei die Leistungselite, ist nachweislich falsch. Selbst in den Unternehmen nimmt ihre Neigung ab, Verantwortung zu übernehmen. Die Vermögenden beschränken sich auf eine einzige Rolle: Sie kassieren den Gewinn. Ihnen gehört das Geld. Reichsein reicht den Reichen.
Das Märchen von der Chancengleichheit
Die Gesellschaft lässt das zu. Sie hat offenbar keine Erwartungen an die Oberschicht, sie formuliert keine Ansprüche. Die Vermögenden müssen ihr Reichsein durch nichts rechtfertigen. Das widerspricht dem Grundgedanken der Leistungsgesellschaft. Wer keine angemessene Leistung erbringt, verliert seine Stellung. Im Gegenzug muss für die Tüchtigen die Chance zum Aufstieg bestehen, die Möglichkeit, selbst in den Stand der Geldelite aufzurücken. Dieser Austausch der Eliten ist keine Revolution. Er ist Alltag in der Leistungsgesellschaft. Soziale Mobilität und Chancengerechtigkeit sind darum mehr noch als ein Merkmal der Leistungsgesellschaft. Sie sind das Maß, an dem sich jede Leistungsgesellschaft messen lassen muss.
Allgemeines Krankenhaus Hamburg-Altona, Perinatalzentrum, Abteilung Geburtshilfe. Noch mutterwarm liegen die Neugeborenen nebeneinander. Am Anfang sind noch alle gleich. Keine sozialen Unterschiede, keine Hierarchie, kein oben, kein unten. Niemand kann jetzt schon sagen, wer einmal Rechtsanwalt wird, wer Vorstandsvorsitzender oder Unternehmer. Und wer ein kleiner Angestellter, Abteilungsleiter oder arbeitslos. Jetzt, in den ersten Stunden, bietet das Leben all diesen kleinen Menschen die gleichen Chancen. Von wegen! Die Würfel sind längst schon gefallen.
Entscheidend ist die Autobahn, die kaum hundert Meter neben dem Krankenhaus im Elbtunnel verschwindet. Die A7 trennt den Arbeiterbezirk Altona von den noblen Elbvororten, die sich eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der gesamten Republik erfreuen und einer beeindruckenden Konzentration von Vermögen.
In den nächsten Tagen werden die Ergebnisse der Klassenlotterie sichtbar. Dann werden Mütter und Kinder das Krankenhaus verlassen. Welche Kinder dürfen ins feine Blankenese? Und wen schickt das Schicksal nach Altona? Ausschlaggebend für die Entwicklung eines Menschen, welche Lebenschancen auf ihn warten, das entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft. Heute mehr denn je. Du wirst, was deine Eltern sind.
Gleiche Chancen für alle, das ist natürlich eine Illusion, in allen Gesellschaften. Doch die Chancengerechtigkeit wenigstens zu verbessern, ist seit der Kanzlerschaft von Willy Brandt eines der wichtigsten Ziele der deutschen Politik. Kinder von beiden Seiten der Autobahn sollen die Chefsessel erobern und es zu Reichtum bringen können. Klaus von Dohnanyi war Bildungsminister im Kabinett von Willy Brandt und damit zuständig für die Verwirklichung der Idee. »Was die Chancengleichheit angeht, haben wir viel zu wenig erreicht, viel zu wenig«, lautet die Bilanz von Klaus von Dohnanyi.
Aber was ist mit dem Putzfrauensohn Gerhard Schröder? Der brachte es immerhin zum
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