Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
und Leistung. Tricksen ist also eine typische Folge des Küstenlebens.
Der Soziologe Sighard Neckel hat beobachtet, dass der Geldadel den Zusammenhang zwischen Leistung und Erfolg kaum noch empfindet. Die Vermögenden messen ihren Erfolg an Renditen und Profit. An die Stelle des »bürgerlichen Erwerbsfleißes« ist die »Ökonomie der günstigen Gelegenheit« getreten. 4 In der Oberschicht wird Erfolg nicht mehr als Ergebnis von Leistung gesehen, sondern als eine Selbstverständlichkeit, als ein Recht, das einem aufgrund der Herkunft zusteht. Erfolg ist also Schicksal.
In der Unterschicht ist der Zusammenhang zwischen Leistung und Erfolg ebenso gestört, weil dort Erfolg als denkbares Resultat von Leistung beinahe ausscheidet. Dass Menschen sich ein besseres Leben erarbeiten, gehört nicht zu ihren Alltagserfahrungen. Und die wenigen, denen das gelingt, ziehen aus ihrer alten Umgebung weg und scheiden als sichtbares Vorbild für die Zurückgebliebenen aus. In der Unterschicht konzentriert sich der Traum vom Erfolg auf den Lottogewinn, auf die Teilnahme an einer Castingshow oder auf das Jobcenter, das einem ohne eigenes Zutun eine attraktive Stelle vermittelt. Erfolg ist also auch dort Schicksal.
Für Angehörige der Unterschicht ist es in Deutschland ungewöhnlich schwer, bei der Mittelschicht an Bord zu kommen. Von der Oberschicht wird das nicht einmal erwartet. So bleibt die Mitte unter sich und hält ihre Welt für das gesamte Universum. Die soziale Mobilität ist in kaum einem anderen Land der OECD so gering wie in Deutschland. 5 Reinhard Pollack vom Wissenschaftszentrum Berlin hat in einer Studie nachgewiesen: Soziale Mobilität gibt es in Deutschland ausschließlich innerhalb der Mittelschicht. Aufstieg über die Schichtgrenzen hinaus ist äußerst selten. Beim großen Aufzug kann man im Keller nicht zu- und im Penthouse nicht aussteigen. So mischen sich die Milieus in Deutschland nicht. Oben bleibt oben. Unten bleibt unten. Mitte bleibt Mitte.
Nur in der Krise gibt es Veränderungen. Nach unten. Dann breitet sich in der Mitte Abstiegsangst aus. Mit ihren Zukunftssorgen ist die Mittelschicht allein. Die Oberschicht weiß, dass ihr Reichtum auch von der schlimmsten Krise unangetastet bleibt. Das hat die Finanzmarktkrise der letzten Jahre erneut eindrucksvoll bewiesen. Auch die Unterschicht muss sich um ihre wirtschaftliche Situation keine Sorgen machen. Der Staat überweist stets zuverlässig. Abstiegsangst begleitet das Leben nur in der Mittelschicht.
Die Mittelschicht schaut weg
Auf- und Abstieg ist nicht das einzige Phänomen, das auf die Mittelschicht beschränkt bleibt. Verteilungskämpfe sind fast ausschließlich Auseinandersetzungen nur innerhalb der Mittelschicht. Gewerkschaften und Arbeitgeber ringen darum, wie der Teil des erwirtschafteten Geldes verteilt wird, den die Kapitaleigner, die Quandts, den Beschäftigten übrig lassen. Selbst die Gewerkschaften thematisieren den Profit der Eigentümer nicht mehr. Ulrike Herrmann nennt das »eine seltsam blinde Form des Klassenkampfes. Die Klasse der Kapitaleigner wird ignoriert, stattdessen geht die Klasse der abhängig Beschäftigten aufeinander los.« 6 Klassenkampf gibt es also nur noch in der Mittelschicht.
Auch von den Auseinandersetzungen um die Verteilungspolitik des Staates bleiben Ober- und Unterschicht meist ausgespart. Die politische Klasse diskutiert über Pendlerpauschale, Praxisgebühr, Betreuungsgeld und vor allem über die Einkommenssteuer. Wer von leistungslosem Einkommen lebt, ist davon nicht betroffen. Verteilungskämpfe finden in Deutschland nur innerhalb der Mittelschicht statt. Die eigentliche Umverteilung wird dabei vollkommen außer Acht gelassen: die gleichzeitige Umverteilung nach ganz oben, zu den Vermögenden, und nach unten, zu den Empfängern von staatlichen Transfers.
Die Mittelschicht hielt sich in Deutschland allzu lange nicht nur für die Mehrheit, sondern für die gesamte Gesellschaft. So dauerte es lange, bis die Gesellschaft die Verwerfungen an ihren Rändern bemerkte. 2003 war es der Berliner Historiker Paul Nolte, der in der ZEIT ein Essay über die neue Unterschicht veröffentlichte und damit erstmals auf das Entstehen eines Milieus am unteren Rand aufmerksam machte. 7
Obgleich die Debatte über die Unterschicht häufig am eigentlichen Problem vorbeigeführt wurde, ist die Gesellschaft bei der Wahrnehmung der Probleme am unteren Rand um fast ein Jahrzehnt weiter als beim Erkennen der Veränderungen in der
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