Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
Oberschicht. Die Debatte über die Geldelite hat erst im Sommer 2011 mit dem Entstehen der Occupy-Bewegung begonnen. Warum hat das so lange gedauert?
Ein Grund ist Ablenkung. In den vergangenen Jahrzehnten standen in Deutschland andere Themen im Vordergrund: Die 80er Jahre waren geprägt von der Auseinandersetzung um Fragen der Ökologie und der Friedenssicherung. In den 90er Jahren war die Wiedervereinigung die große nationale Aufgabe. Nach der Jahrtausendwende debattierte das Land darüber, wie der »Standort Deutschland« an die globalen Herausforderungen angepasst werden soll. Genau in diesen drei Jahrzehnten haben sich die Parallelgesellschaften gebildet. In den »sozialen Brennpunkten« der Städte hat sich die Kultur der neuen Unterschicht verfestigt. Im selben Zeitraum ist das Vermögen zugunsten der Geldelite neu verteilt worden. Alles unterhalb des Radars von Wissenschaft, Medien, Öffentlichkeit und Politik.
Marx und Engels nannten die beiden Parallelgesellschaften »Lumpenproletariat« und »Kapitalisten« und verachteten sie gleichermaßen. Im » Kommunistischen Manifest« ist von der »passiven Verfaulung der untersten sozialen Schichten« die Rede. 8 Engels zieht eine Parallele zur Oberschicht und nennt sie »Schmarotzeradel« und »adliges Lumpenproletariat«. 9 Marx schreibt in seinem Aufsatz »Die Klassenkämpfe in Frankreich«, die Finanzaristokratie sei eine »Wiedergeburt des Lumpenproletariats auf den Höhen der bürgerlichen Gesellschaft«. 10
Die Klassenkampfrhetorik klingt nach Vergangenheit. Altes Denken. Die Deutschen wollten so unbedingt keine Klassengesellschaft sein, dass sie es sich längst abgewöhnt hatten, ihre Gesellschaft in Kategorien wie Klassen oder Schichten zu sehen. Die DDR lebte die Illusion der »sozialistischen Einheitsgesellschaft«. Ober- und Unterschicht wurden einfach abgeschafft.
Die alte Bundesrepublik sah sich auf einem ähnlichen Weg. Der Soziologe Helmut Schelsky prägte den Begriff der »nivellierten Mittelstandsgesellschaft«. Er war überzeugt, dass immer mehr Menschen aus der Unterschicht aufsteigen und immer mehr aus der Oberschicht absteigen werden und die sozialen Schichten schließlich ihre Bedeutung verlieren. Und tatsächlich schienen das Wirtschaftswunder und die große soziale Mobilität in den Nachkriegsjahrzehnten ihm Recht zu geben. Die heutigen Erwachsenen der alten Bundesrepublik sind in dem Bewusstsein aufgewachsen: Wir sind alle Mittelschicht, irgendwie.
Die Deutschen aus Ost und West haben inzwischen keine Erfahrung mehr darin, die Klassenunterschiede in ihrer eigenen Gesellschaft zu erkennen. Die Sicht von der Einheitsmittelschicht prägt die Vorstellung, die sich diese Gesellschaft von sich selber macht. Doch diese Gesichtsfeldverengung verhindert den Blick auf die großen Veränderungen, die sich an den Rändern ereignen. Wer die Existenz von sozialen Klassen in Deutschland ignoriert, übersieht die Entwicklungen, die den Gemeinsinn zersetzen. In den Außenbezirken haben sie längst begonnen. In der Mitte spürt man sie erst allmählich. Das ist einer der Gründe, warum die dramatischen Veränderungen weit entfernt vom Zentrum nicht bemerkt wurden.
Den Deutschen fällt es nicht nur schwer, die entstandenen Parallelgesellschaften zu erkennen. Sie können sie nicht einmal benennen. Es fehlen schlicht die Worte: In der Verwendung des Begriffs »Unterschicht« sehen viele eine Verletzung der politischen Korrektheit. Das »Prekariat« hingegen ist politisch einwandfrei, taugt aber allenfalls für den akademischen Diskurs im Oberseminar Soziologie. Allgemeine Unverständlichkeit war den deutschen Sozialwissenschaften stets ein ganz besonderes Anliegen.
Für die »Oberschicht« gibt es zwar viele Synonyme, doch keine Bezeichnung kommt ohne zusätzliche Erklärung aus: »Oberschicht« selbst klingt in manchen Ohren nach Bildungsbürgertum, nach Gelehrten in der Altbauwohnung. Und damit nicht nach Reichtum. Mit »Elite« sind gemeinhin die Besten gemeint. Auch »Besserverdienende« führt in die Irre, denn für die meisten Besserverdienenden bleibt Reichtum nur ein unerfüllter Traum. Kein Begriff ist also wirklich treffend.
Was man nicht benennen kann, darüber kann man nicht sprechen. Debatten über Oben und Unten scheitern darum meist schon daran, sich darauf zu einigen, über wen genau man spricht. Alle argumentieren aneinander vorbei. Die Sprachlosigkeit ist einer der wichtigsten Gründe für das Entstehen und für das Übersehen der
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