Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
vorsichtig mit dem, was er sagt und wie er es sagt. Er will nicht als der Ackermann der Sozialbranche dastehen. »Sozialkapitalismus«, so nennt er das, was er macht. Gora befolgt die Regeln des Marktes, aber er hat Zweifel. »Bei dieser Kommerzialisierung frage ich mich schon: Will ich das so eigentlich noch?«
In Goras erstem Arbeitsvertrag bezeichnete sich die AWO noch selbst als »sozialistischen Verband«. Heute ist der einstige Sozialist gezwungen, jeden Steuertrick anzuwenden, jede Lücke im »Leistungsrecht« auszunutzen, sich dem Markt anzupassen und die Kosten zu drücken. Goras Zweifel am »Sozialkapitalismus« sind typisch für das Führungspersonal der Sozialbranche. In den vergangenen Jahren habe ich häufig mit Sozialmanagern gesprochen, die selbst kaum glauben können, was aus ihnen geworden ist. Viele aus der heutigen Geschäftsführergeneration haben sich einst aus Opposition gegen das »Schweinesystem« für einen sozialen Beruf entschieden. Geld verdienen war ihnen nicht wichtig. Auf der Uni wurden sie von linken Professoren unterrichtet. An den Wochenenden demonstrierten sie gegen die Ausbeutung des Kapitalismus.
Heute wenden sie Methoden an, mit denen man auch eine Drogeriekette leiten kann. Die größte Branche der deutschen Volkswirtschaft wird von Managern geführt, die das Geschäft, das sie betreiben, so nicht gelernt haben. Oft sind es im Kern verunsicherte Personen, die nur mit halbem Herzen hinter dem stehen, was sie tun.
In der Welt der Dortmunder AWO ist das Leben manchmal ein Ponyhof. Zumindest auf ihrem Reiterhof am Stadtrand. Es riecht nach frischen Pferdeäpfeln, Stroh und Lederfett. Mädchen kichern, Ponys schnauben und ertragen geduldig, dass Kinder an ihrem Schweif ziehen, unter ihrem Bauch durchklettern und beim Striegeln auch schon mal gegen den Strich arbeiten. Im AWO -Reiterhof stehen 16 Pferde und Ponys. Gutmütigere Tiere findet man nirgendwo. Es sind keine normalen Reitpferde, sondern speziell ausgebildete Therapiepferde. Auf ihnen turnen Kinder herum, in deren kurzen Leben schon viel schiefgelaufen ist. Die meisten haben einen »besonderen Förderbedarf«. Bei manchen ist die emotionale und soziale Entwicklung verzögert. Viele sind »lernbehindert«. Die meisten besuchen spezielle Förderschulen. Die therapeutischen Reiterhöfe sind die Reitschulen der Unterschicht.
Die Kinder aus dem Wohnblock strahlen, wenn sie auf dem Rücken der Pferde sitzen. Sie glucksen vor Glück, wenn das Pony beginnt, leicht zu galoppieren. Wer dabei zuschaut, wünscht sich fast automatisch, dass möglichst viele Kinder in den Genuss einer solchen Reittherapie kommen könnten. Warum soll dieses Privileg den Töchtern der Reichen vorbehalten bleiben? Warum soll die Unterschicht nicht auch reiten? Nur: Gehören Reitstunden wirklich zu den Aufgaben eines Sozialstaates? Wie weit geht die Hilfspflicht der Solidargemeinschaft?
Bei der Hilfe gibt es keine Grenzen des Wachstums
Das Gesundheitswesen ist in dieser Debatte schon weiter. Die Kostenentwicklung ist seit Jahrzehnten das zentrale Thema der Gesundheitsversorgung. Inzwischen ist klar: Wenn man den Ärzten und der Pharmaindustrie das System überlässt, explodieren die Kosten. Die wirtschaftlichen Interessen der Gesundheitsbranche zu begrenzen, ist die Ursache und das zentrale Anliegen der unzähligen Gesundheitsreformen. Das Ringen um einen Ausgleich zwischen den Profitinteressen der Branche und dem Ziel einer guten, bezahlbaren Versorgung wird sicher nie ein Ende finden.
Alle Beteiligten haben in den vergangenen Jahrzehnten gelernt, dass sich kein Gesundheitssystem alles leisten kann, was wünschenswert wäre. Irgendwo muss eine Grenze sein. Deswegen sind die Ausgaben für Gesundheit gedeckelt. Die Ausgaben für Hilfe jedoch nicht.
Auch wenn das Gesundheitswesen von niemandem als vorbildlich empfunden werden kann – dem Hilfswesen hat es einiges voraus. Dafür ist die Reittherapie ein gutes Beispiel. Von den gesetzlichen Krankenkassen werden Therapiemethoden nur bezahlt, wenn ihre Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit in einem wissenschaftlichen Verfahren nachgewiesen wurde.
Im Gesundheitssystem müssten die Anbieter des therapeutischen Reitens zeigen, dass ihre Methode tatsächlich einen heilsamen Effekt hat. Und dass sich die Wirkung nicht kostengünstiger erzielen lässt. Womöglich schult Schaukeln oder Turnen den Gleichgewichtssinn und die Geschicklichkeit ebenso sehr. Schlichtes Fußballspielen könnte sich auf das soziale
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