Die Asozialen: Wie Ober- und Unterschicht unser Land ruinieren - und wer davon profitiert (German Edition)
Ansätzen auch im Sozialmarkt zu beobachten. Deutschland erlebt tatsächlich einen Anstieg an Menschen, die Hilfe brauchen, weil der Anteil der Überforderten zunimmt. Doch der Ausbau der Hilfsangebote hat sich vom Bedarf weitgehend abgekoppelt. Die Hilfsbedürftigkeit kann mit dem rasanten Wachstum der Hilfsindustrie nicht Schritt halten.
Besonders deutlich wird das bei der Entwicklung der Behinderten in Deutschland. Seit 1994 hat sich die Zahl der amtlich registrierten Behinderten verdoppelt. 5 In dem Anstieg zeigt sich keine Veränderung der Volksgesundheit, sondern eine Veränderung der Bewertung. Davon betroffen sind vor allem Kinder bildungsferner Eltern aus der Unterschicht, deren systematische Benachteiligung eines der Merkmale unseres Bildungssystems darstellt. Kinder, die in der Schule nicht mitkommen, werden nicht innerhalb des Schulsystems gefördert, sondern in steigender Zahl als »lernbehindert« eingestuft – eine Kategorie der Behinderung, die es so nur in Deutschland gibt. Fast die Hälfte aller behinderten Kinder sind inzwischen »lernbehindert.« Auf diese Weise werden zahlreiche Kinder der Unterschicht schon zu Beginn ihres Lebens zu Kunden der Hilfsindustrie. Denn fast 85 Prozent aller Kinder mit »besonderem Förderbedarf« besuchen eine spezielle Förderschule. 6 Träger dieser Förderschulen ist in aller Regel nicht der Staat selbst, sondern ein Unternehmen der Wohlfahrtsbranche.
Mit wirksamer Hilfe hat das wenig gemein. Eine Vielzahl nationaler und internationaler Studien belegt, dass die Separierung von behinderten Kindern ihre Entwicklung nicht fördert. 76 Prozent verlassen die Förderschule ohne einen Hauptschulabschluss. Für die Helfer ist das eine erfreuliche Nachricht. Wer eine Förderschule ohne Abschluss verlässt, bleibt der Branche meist ein Leben lang als Stammkunde erhalten. Der Wachstumsmarkt der Behindertenhilfe ist ein Beispiel für ein Blase in der Sozialwirtschaft.
Der Rückzug des Staates
Die Entstehung der Blasen in den Parallelwirtschaften offenbart ein Versagen der Regelungsmechanismen. Die »Checks and Balances«, die in der Realwirtschaft für ein funktionsfähiges Gleichgewicht sorgen, gelten für die Giganten der Volkswirtschaft nur eingeschränkt. Die Politik hat die erstaunliche Entwicklung nach Kräften gefördert. Nicht nur mit Geld, sondern insbesondere auch durch eine massive Deregulierung beider Branchen in den 90er Jahren.
Nachdem Margret Thatcher 1986 in einem »Big Bang« einen Teil der Regeln für den Handel an der Börse abschaffte, begann auf der ganzen Welt ein Wettlauf der Deregulierung der Finanzwelt. Auch Deutschland beteiligte sich daran und strich mehrere Gesetze, die dem Geldgeschäft bis dahin Struktur und Sicherheit gegeben hatten.
Zur selben Zeit fand die wirtschaftliche Befreiungsbewegung auch in der Welt des Sozialen ihre Entsprechung. Staatliche Stellen zogen sich immer weiter aus den konkreten Hilfsangeboten zurück. Das Geschäftsfeld der Hilfe wurde beinahe vollständig »outgesourced« an sogenannte freie Träger – Unternehmen der Wohlfahrtsbranche.
Die Kinder- und Jugendhilfe wurde zu einem besonders leistungsstarken Wachstumsmotor der gesamten Sozialbranche, weil der Rückzug der staatlichen Helfer hier besonders weit gegangen ist. Die Jugendämter sind gesetzlich zur Privatisierung der Angebote verpflichtet. Sie dürfen keine eigenen Maßnahmen anbieten, wenn freie Träger den Job übernehmen wollen. 7 Den staatlichen Stellen ist es nicht nur verboten, den Sozialfirmen mit eigenen Hilfsangeboten Konkurrenz zu machen. Sie dürfen nicht einmal mehr darüber entscheiden, wer den Zuschlag für die lukrativen Aufträge erhält. Bei der Vergabe von Hilfsarbeiten in der Jugendhilfe ist nicht das Jugendamt, sondern der Jugendhilfeausschuss das höchste Entscheidungsgremium. 8 Stimmberechtigte Mitglieder in diesem Ausschuss sind ausdrücklich auch Vertreter der örtlichen Wohlfahrtsunternehmen. Die Firmen sind also Auftraggeber und Auftragnehmer in einem.
Warum wird dieser offensichtliche Interessenkonflikt als sol cher nicht wahrgenommen, weder von den Akteuren selbst, noch von der Politik und erst recht nicht von der Öffentlichkeit? Weil es dieser Gesellschaft bislang nicht bewusst ist, dass Helfer eigene Interessen haben. Auch kommerzielle. Und diese Interessen decken sich nicht unbedingt mit denen der Gesellschaft oder der Hilfsbedürftigen.
Was die Banken betrifft ist der gesellschaftliche Erkenntnisprozess in dieser Frage
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