Die Aspern-Schriften (German Edition)
Schwierigkeiten bereitet.
Die Gondel hielt an, vor uns lag der alte Palazzo. Es war ein Haus von jener Sorte, die in Venedig selbst im Zustand äußersten Verfalls noch den ehrwürdigen Namen trägt. »Wie hinreißen d ! Er ist grau und ros a !« rief meine Begleiterin aus; und das ist die umfassendste Beschreibung, die man von dem Gebäude geben kann. Es war nicht besonders alt, vielleicht zwei oder drei Jahrhunderte; und es vermittelte nicht so sehr den Eindruck von Verfall als vielmehr von stiller Resignation, als hätte es seine eigentliche Bestimmung verfehlt. Doch seine breite Fassade mit dem steinernen Balkon, der von einem Ende des piano nobile , der Etage mit den Empfangsräumen, zum anderen reichte, wirkte durch die Verzierung mit verschiedenen Pilastern und Bögen durchaus architektonisch gestaltet; und die Stukkaturen, mit denen die Zwischenräume vor langer Zeit versehen worden waren, schimmerten rosig im Licht des Aprilnachmittags. Das Haus erhob sich über einem sauberen, melancholisch dahinfließenden, geradezu einsam wirkenden Kanal, an dem zu beiden Seiten eine schmale riva , ein bequemer Fußweg verlief. »Ich weiß nicht warum, schließlich gibt es hier keine Backsteingiebel«, sagte Mrs. Prest, »aber diese Gegend ist mir immer eher holländisch als italienisch vorgekommen, sah mir mehr nach Amsterdam als nach Venedig aus. Es wirkt hier übertrieben sauber, aus welchem Grund auch immer; obwohl man hier zu Fuß entlang gehen kann, kommt fast nie jemand auf die Idee, dies zu tun. Es hat hier etwas so Abweisendes – bedenkt man seine Lage – wie ein protestantischer Sonntag. Vielleicht fürchten sich die Leute vor den Damen Bordereau. Offenbar hält man sie für Hexen.«
Ich habe vergessen, was ich darauf geantwortet habe – ich war zu sehr mit zwei anderen Überlegungen beschäftigt. Die erste drehte sich darum, dass die alte Dame in einem so großen und beeindruckenden Haus wohnte, dass sie wohl kaum unter Armut zu leiden hatte und folglich auch nicht mit dem Angebot verführt werden konnte, ein paar Zimmer zu vermieten. Ich teilte Mrs. Prest diese Befürchtung mit, und sie wusste darauf eine sehr plausible Antwort. »Würde sie nicht in einem so großen Haus leben, wie könnte man dann überhaupt auf die Idee kommen, bei ihr Räume mieten zu wolle n ? Hätte sie nicht mehr Raum als genug zur Verfügung, gäbe es für Sie keinen Grund, an sie heranzutreten. Übrigens beweist ein großes Haus hier, und schon gar in einem solchen quartier perdu wie diesem abgelegenen Stadtteil, überhaupt nichts: Es lässt sich perfekt mit einem Leben in Armut in Einklang bringen. Halb verfallene alte Palazzi sind schon für fünf Schilling im Jahr zu mieten, wenn man unbedingt nach so etwas Ausschau hält. Und was die Leute betrifft, die darin wohnen – aber nein, solange Sie die sozialen Zustände in Venedig nicht genauso gründlich erforscht haben wie ich, können Sie sich keine Vorstellung von der Trostlosigkeit ihrer Behausungen machen. Sie leben von nichts, denn sie haben nichts, wovon sie leben könnten.«
Der andere Gedanke, der mir in den Kopf gekommen war, hatte etwas mit einer hohen, kahlen Mauer zu tun, die offenbar auf der einen Seite des Hauses einen Teil des Grundstücks umschloss. Ich nenne sie kahl, doch sie war über und über mit Flickstellen bedeckt, wie sie einem Maler gefallen würden, mit ausgebesserten Rissen, abbröckelndem Putz, hervorstehenden Backsteinen, die durch Verwitterung hellrosa geworden waren; ein paar kümmerliche Bäume und das Gestänge von wackeligen Spalieren ragten über den Mauerrand hinaus. Dieses Stück Grund war offenbar ein Garten, der zu dem Haus gehörte. Plötzlich kam mir in den Sinn, dass genau diese Zugehörigkeit mir meinen Vorwand lieferte.
Ich saß neben Mrs. Prest und betrachtete all das (es war mit dem goldenen Glanz Venedigs überzogen) aus dem Schatten unserer überdachten Kabine heraus, und sie fragte mich, ob ich hineingehen wollte, während sie auf mich wartete, oder lieber ein anderes Mal wiederkommen wollte. Ich konnte mich nicht sofort entscheiden – womit ich zweifellos eine Schwäche zeigte. Ich wollte mich noch an dem Gedanken festhalten, dass man mir vielleicht doch Unterkunft gewähren würde, zugleich aber fürchtete ich einen Fehlschlag, und das würde bedeuten, wie ich meiner Begleiterin darlegte, dass ich keinen weiteren Pfeil mehr im Köcher hätte. »Warum keinen weitere n ?« fragte sie, während ich noch immer unentschlossen
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