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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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aufrechteren Lebenswandel hätte führen können. Und diese Umstände waren fast immer schwierig und gefährlich. Die Hälfte der Frauen seiner Zeit hatte sich ihm, um es frei heraus zu sagen, an den Hals geworfen, und solange diese Tollheit wütete – zumal sie sich als sehr ansteckend erwies –, konnten Unfälle, manche davon schwer, nicht ausbleiben. Er war kein Dichter für Frauen, wie ich Mrs. Prest gegenüber angemerkt hatte, zumindest nicht in der späten Phase seines Ruhms; doch war die Situation eine ganz andere gewesen, als die Stimme des Mannes noch beim Vortrag seiner Verse zu hören war. Diese Stimme war, wie jeder bezeugen konnte, eine der verführerischsten, die man je gehört hatte. »Orpheus und die Mänade n !« hatte mein so und nicht anders vorausgesehenes Urteil gelautet, als ich zum ersten Mal in seiner Korrespondenz blätterte. Fast all diese Mänaden waren unvernünftig und viele von ihnen unerträglich. Es beeindruckte mich, dass er freundlicher und zuvorkommender gewesen war, als es mir an seiner Stelle – sofern ich mir eine solche Lebenslage für mich überhaupt vorstellen konnte – je möglich gewesen wäre.
    Es war sicherlich an Seltsamkeit kaum noch zu überbieten, aber ich möchte hier keinen Raum verschwenden, um eine Erklärung dafür zu finden, dass die einzige lebende Informationsquelle, die bis in unsere Zeit überdauert hatte, von uns unbeachtet geblieben war, während wir es bei all den anderen Beziehungen und allen anderen Richtungen unserer Forschung nur mit Fantomen und Staub zu tun hatten, lediglich mit Schall und Rauch. Asperns sämtliche Zeitgenossen hatten, davon waren wir überzeugt, inzwischen das Zeitliche gesegnet; es war uns nicht vergönnt, in ein einziges Augenpaar zu blicken, in das auch seine Augen geblickt hatten, oder einen indirekten Kontakt in einer gealterten Hand zu spüren, die seine Hand einst berührt hatte. Am totesten von allen war uns die arme Miss Bordereau erschienen, und doch war sie die Einzige, die noch am Leben war. Im Laufe der Monate gingen wir bis zur Erschöpfung der Frage nach, die uns selbst befremdete, warum wir sie nicht schon früher ausfindig gemacht hatten, und das Fazit unserer Erklärung lautete, dass sie sich so still verhalten hatte. Die gute Dame dürfte gewichtige Gründe dafür gehabt haben. Aber es war eine bestürzende Erkenntnis für uns, dass Selbstauslöschung in einem solchen Ausmaß in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts möglich gewesen war – im Zeitalter von Tageszeitungen, Telegrammen, Fotografien und Reportagen. Sie hatte sich nicht einmal große Mühe damit gegeben – hatte sich nicht in einem verborgenen Schlupfloch vergraben, sondern sich mutig in einer Stadt niedergelassen, wo die Selbstdarstellung regierte. Ein offensichtliches Geheimnis ihres Sicherheitsgefühls hatte darin bestanden, dass Venedig so zahlreiche sehr viel größere Sehenswürdigkeiten beherbergte. Und dann war ihr auch der Zufall zu Hilfe gekommen, wie er sich zum Beispiel in der Tatsache zeigte, dass Mrs. Prest sie mir gegenüber niemals erwähnt hatte, obwohl ich fünf Jahre zuvor drei Wochen in Venedig verbracht hatte – unmittelbar zu Füßen der besagten Damen. Tatsächlich hatte meine Freundin ihren Namen auch anderen Leuten gegenüber kaum je erwähnt; sie schien vergessen zu haben, dass die andere überhaupt noch existierte. Verständlicherweise verfügte Mrs. Prest nicht über das Feingefühl eines literarischen Herausgebers. Indes konnte es auch nicht als Erklärung gelten, dass die alte Frau unserer Aufmerksamkeit entgangen war, wenn wir sagten, dass sie im Ausland lebte, denn unsere Nachforschungen hatten uns immer und immer wieder – nicht nur durch Korrespondenz, sondern auch durch persönliche Nachfragen – nach Frankreich, Deutschland und Italien geführt, in jene Länder, in denen Aspern, abgesehen von seinem folgenreichen Aufenthalt in England, so viele der allzu wenigen Jahre seiner Karriere verbracht hatte. Am Ende konnten wir uns glücklich schätzen, dass wir in all unseren Veröffentlichungen – mittlerweile ist wohl manch einer der Meinung, wir hätten des Guten zuviel getan – die Verbindung mit Miss Bordereau nur am Rande und auf die diskreteste Weise gestreift haben. Seltsam zu sagen, doch selbst wenn wir das Material zur Verfügung gehabt hätten – und wir haben uns häufig gefragt, was wohl damit geschehen sein mochte –, hätte uns die Behandlung dieser Episode die allergrößten

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