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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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sagte Miss Tina. »Sie hingegen hat Kontrolle über mich.«
    »Aber sie hat keine Kontrolle über ihre eigenen Arme und Beine, nicht wahr? Wahrscheinlich würde sie die Briefe doch verbrennen, das schiene mir die naheliegendste Art der Vernichtung. Doch ohne Feuer kann sie sie nicht verbrennen, und sie kommt an Feuer nicht heran, wenn Sie es ihr nicht geben.«
    »Ich habe immer alles getan, was sie von mir verlangt hat«, machte meine Freundin geltend. »Außerdem ist noch Olimpia da.«
    Ich war drauf und dran zu sagen, dass Olimpia wahrscheinlich bestechlich sei, hielt es dann aber für besser, nicht einen solchen Ton anzuschlagen. Darum beschränkte ich mich auf die Bemerkung, dass man mit diesem schwachen Geschöpf doch wohl umzugehen wisse.
    »Meine Tante versteht es, sich jeden gefügig zu machen«, sagte Miss Tina. Und dann fiel ihr ein, dass ihre Freizeit nun zu Ende sei und sie nach Hause gehen müsse.
    Über den Tisch hinweg legte ich meine Hand auf ihren Arm, um sie noch einen Moment zum Bleiben zu bewegen. »Was ich von Ihnen möchte, ist das Versprechen, mir zu helfen.«
    »Aber wie kann ich das, wie soll ich das machen?« fragte sie erstaunt und verwirrt zugleich. Sie war halb überrascht, halb erschrocken, dass ich ihr eine solche Wichtigkeit beimaß, indem ich sie um Unterstützung bat.
    »Das Allerwichtigste ist: unsere Freundin sorgsam zu beobachten und mich rechtzeitig zu warnen, bevor sie diesen schandbaren Frevel begeht.«
    »Ich kann sie nicht beobachten, wenn sie mich zum Ausgehen zwingt.«
    »Da haben Sie Recht.«
    »Und wenn Sie das Gleiche tun.«
    »Gnade uns Gott – glauben Sie, sie hat es schon heute Nacht getan?«
    »Ich weiß es nicht. Sie ist äußerst gerissen.«
    »Wollen Sie mir Angst einjagen?« fragte ich.
    Ich fand diese Frage ausreichend beantwortet, als meine Begleiterin nachdenklich, fast eifersüchtig murmelte: »Aber sie liebt sie doch – sie liebt si e !«
    Dieser mit so viel Nachdruck wiederholte Gedanke war für mich sehr tröstlich; doch um noch mehr von diesem Seelenbalsam zu erhalten, sagte ich: »Sollte sie nicht die Absicht haben, die in Frage stehenden Dinge vor ihrem Tod zu vernichten, so wird sie doch wohl in ihrem Testament eine Verfügung darüber getroffen haben.«
    »In ihrem Testament?«
    »Hat sie kein Testament zu Ihren Gunsten gemacht?«
    »Wozu, sie hat doch kaum etwas zu hinterlassen. Darum liegt ihr so viel am Geld«, sagte Miss Tina.
    »Darf ich fragen, da wir schon über solche Dinge sprechen, wovon Sie und Ihre Tante leben?«
    »Von etwas Geld, das aus Amerika kommt, von einem Herrn – ich glaube einem Rechtsanwalt – in New York. Er schickt es jedes Vierteljahr. Es ist nicht vie l !«
    »Und über diesen Betrag hat sie nichts verfüg t ?«
    Meine Begleiterin zögerte – ich sah, wie sie errötete. »Ich vermute, dass es mir gehört«, sagte sie; und dabei verrieten ihr Blick und ihre Stimme, dass es ihr vollständig fremd war, an sich selbst zu denken, und in diesem Augenblick kam sie mir geradezu reizend vor. Gleich darauf fügte sie hinzu: »Aber einmal, es ist schon ewig lange her, war ein avvocato bei ihr. Und dann kamen ein paar Leute und unterschrieben irgendetwas.«
    »Wahrscheinlich waren das Zeugen. Und Sie mussten nicht unterschreiben? Dann ist es wohl so«, folgerte ich schnell und zuversichtlich, »dass Sie die Begünstigte waren. Sie muss all ihre Dokumente Ihnen vermacht habe n !«
    »Wenn sie das getan hat, dann mit striktesten Auflagen«, antwortete Miss Tina, während sie sich eilig erhob, sodass die Bewegung ihren Worten etwas Entschiedenes verlieh. Sie schienen zu beinhalten, dass das Vermächtnis sicherlich mit einer Klausel versehen sein würde, dass die hinterlassenen Gegenstände vor jedem zudringlichen Blick verschlossen gehalten werden müssten und dass ich völlig falsch läge, wenn ich sie für die Frau hielte, die von einem so unbedingten Verbot je abwiche.
    »Aber natürlich werden Sie den Bedingungen Folge leisten müssen«, sagte ich; sie gab nichts von sich, was die Striktheit dieser Folgerung gemildert hätte. Wider alle Erwartung sagte sie später, kurz bevor wir bei ihrer Haustür anlegten, nachdem sich die Rückfahrt in fast völligem Schweigen vollzogen hatte – und es kam ganz unvermittelt: »Ich werde tun, was ich kann, um Ihnen zu helfen.« Für diese Worte war ich dankbar – soweit war alles bestens gelaufen; es hielt mich jedoch nicht davon ab, noch in derselben Nacht in einer schlaflosen Stunde voller

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