Die Aspern-Schriften (German Edition)
begaben wir uns auf den langen Weg unter den Arkaden entlang. Beim Anblick der prachtvollen Schaufenster kehrten ihre Lebensgeister zurück, und abwechselnd schlenderte sie ein wenig und hielt dann an, bewunderte die Auslagen oder tadelte etwas, fragte mich nach meiner Meinung über bestimmte Dinge und spekulierte über die Preise. Meine Aufmerksamkeit wanderte von ihr weg; ihre Worte von vorhin »Aber ja, sie hat alle s !« hallten so stark in meinen Gedanken nach. Schließlich ließen wir uns in dem dichtbesetzten Rund des Café Florian nieder, nachdem wir einen freien Tisch gefunden hatten, der auf den Platz hinausging. Es war ein herrlicher Abend, und alle Welt war auf den Beinen; Miss Tina hätte sich für ihre Rückkehr ins Gesellschaftsleben keine glücklichere Konstellation der Elemente wünschen können. Ich merkte, dass sie alles noch tiefer empfand, als sie aussprach, doch der Eindrücke waren fast zu viele für sie. Sie hatte vergessen, wie anziehend die Welt war, und musste nun feststellen, dass sie während der besten Jahre ihres Lebens recht gnadenlos darum betrogen worden war. Es machte sie nicht ärgerlich, doch als sie die bezaubernde Szenerie in sich aufnahm, zeigte sich auf ihrem Gesicht, trotz eines wohlwollenden Lächelns, eine Spur von Überraschung, die etwas Verwundetes hatte. Sie sprach kein Wort, war ganz versunken in dem Gefühl der für immer verpassten Gelegenheiten, die doch so leicht für sie erreichbar gewesen wären; und diesen Augenblick nutzte ich, um zu ihr zu sagen: »Meinten Sie vorhin, dass Ihre Tante einen Plan hegt, mich zum Bleiben zu bewegen, indem sie mir gelegentlich den Besuch bei ihr gestatte t ?«
»Sie meint, Sie würden sich wohler fühlen, wenn Sie sie hin und wieder aufsuchen dürften. Sie wünscht sich so sehr, dass Sie hier bleiben, darum ist sie zu diesem Zugeständnis bereit.«
»Und was soll es ihrer Meinung nach Gutes für mich bewirken, wenn ich sie aufsuchen dar f ?«
»Das weiß ich nicht; es muss interessant sein«, sagte Miss Tina ganz schlicht. »Sie haben ihr gesagt, dass Sie es so empfänden.«
»Ja, das stimmt, aber nicht jeder denkt so.«
»Nein, natürlich nicht, sonst würden ja mehr Leute es versuchen.«
»Nun gut, wenn Sie zu einer solchen Überlegung in der Lage ist, dann wird sie auch zu der folgenden imstande sein«, fuhr ich fort. »Nämlich, dass ich einen speziellen Grund haben muss, es nicht so zu machen wie die anderen, trotz des Interesses, das sie erweckt – sie also nicht zu verlassen.« Miss Tina schaute drein, als wollte es ihr nicht gelingen, diesen recht komplizierten Gedankengang zu erfassen; daher fuhr ich fort: »Wenn Sie ihr nicht erzählt haben, was ich neulich Abend zu Ihnen gesagt habe, könnte sie es nicht zumindest erraten habe n ?«
»Ich weiß es nicht – sie ist sehr misstrauisch.«
»Aber das ist sie doch nicht durch zudringliche Neugier, durch Nachstellungen geworde n ?«
»Nein, nein; das ist es nicht«, sagte Miss Tina und wandte mir ihr beunruhigtes Gesicht zu. »Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll; es ist wegen etwas – vor ewig langer Zeit, noch bevor ich geboren wurde – in ihrem Leben.«
»Etwa s ? Was für ein Etwa s ?« Und diese Frage klang so, als hätte ich nicht die geringste Ahnung.
»Das hat sie mir leider nie erzählt.« Ich war sicher, dass meine Freundin die Wahrheit sagte.
Ihre extreme Freimütigkeit hatte fast etwas Provozierendes, und es kam mir in diesem Augenblick so vor, als hätte ich das Zusammensein mit ihr zufriedenstellender gefunden, wenn sie weniger offenherzig gewesen wäre. »Vermuten Sie, dass es etwas ist, das mit Jeffrey Asperns Briefen und Schriften – ich spreche von den Dingen, die sich in ihrem Besitz befinden – zu tun ha t ?«
»Davon bin ich überzeug t !« rief meine Begleiterin aus, als wäre dies eine besonders glückliche Eingebung. »Ich habe noch nie einen Blick auf eines dieser Dinge geworfen.«
»Nicht auf eine s ? Woher wissen Sie dann, worum es sich handel t ?«
»Das weiß ich eben nicht«, sagte Miss Tina seelenruhig. »Ich habe nie etwas davon in den Händen gehalten. Aber ich habe die Dinge gesehen, wenn sie sie herausgeholt hat.«
»Hat sie sie oft herausgehol t ?«
»In letzter Zeit nicht, aber früher häufiger. Sie bedeuten ihr sehr viel.«
»Obwohl sie kompromittierend sin d ?«
»Kompromittieren d ?« wiederholte Miss Tina, als wüsste sie nicht genau, was das Wort bedeutete. Ich fühlte mich fast wie jemand, der die Unschuld
Weitere Kostenlose Bücher