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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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ich so enttäuscht wäre, und das, obgleich ich nun überzeugt war, dass sie eine Erkenntnis gefasst hatte – wie auch immer die in ihren Kopf gekommen war –, die ihr vermittelt haben musste, dass meine Enttäuschung ganz verständlich war. Doch zu meiner größten Überraschung schloss sie mit der Bemerkung: »Wenn Sie der Meinung sind, wir hätten Sie nicht gut genug behandelt, können wir vielleicht einen Weg finden, Sie besser zu behandeln.« Diese Äußerung erschien mir so widersinnig, dass ich erneut lachen musste, und ich entschuldigte mich, indem ich zu ihr sagte, dass sie zu mir spräche, als wäre ich ein schmollender Schuljunge, der beleidigt in der Ecke säße und wieder in Laune gebracht werden müsste. Es gäbe nicht den geringsten Grund, mich zu beklagen; und könnte irgendetwas Miss Tinas Großzügigkeit übersteigen, mich zur Piazza zu begleiten, wie wenige Abende zuvor geschehen? Darauf erwiderte die alte Frau: »Ja gut, das haben Sie selbst vorgeschlage n !« Und dann in einem veränderten Ton: »Sie ist ein sehr, sehr feines Mädchen.« Dieser Bemerkung stimmte ich von Herzen zu, und sie gab der Hoffnung Ausdruck, dass ich dies nicht nur aus Höflichkeit sagte, sondern dass ich sie wirklich mochte. Mittlerweile fragte ich mich mit wachsender Verwunderung, worauf Miss Bordereau wohl hinauswollte. »Außer mir«, sagte sie, »besitzt sie heute keinen einzigen Verwandten mehr auf der Welt.« Wollte sie mir etwa ihre Nichte, indem sie sie mir als liebenswert und ungebunden darstellte, als eine gute Partie vor Augen führen?
    Es war völlig zutreffend, dass ich es mir nicht mehr leisten konnte, weiterhin Zimmer zu einem Wahnsinnspreis zu bewohnen, und dass ich für mein Unternehmen bereits fast das gesamte Geld ausgegeben hatte, das ich dafür beiseite gelegt hatte. Meine Geduld und meine Zeit waren keineswegs erschöpft, aber ich wollte sie nur noch in dem Maße einsetzen, wie es für ein Leben in Venedig üblicherweise nötig war. Ich war bereit, der mir so kostbaren Person, mit der ich in pekuniären Dingen so wenig übereinstimmte, doppelt so viel zu bezahlen, wie jede andere padrona di casa von mir gefordert hätte, aber ich war nicht bereit, ihr das Zwanzigfache zu bezahlen. Dies sagte ich ihr geradeheraus, und meine Offenheit blieb nicht ohne Erfolg, denn sie rief aus: »Sehr gut; Sie haben getan, worum ich Sie gebeten hatte, Sie haben ein Angebot gemach t !«
    »Ja, aber nicht für ein halbes Jahr, sondern nur für einen Monat.«
    »Ach so, dann muss ich darüber nachdenken.« Sie schien enttäuscht, dass ich mich nicht für einen längeren Zeitraum festlegen wollte, und ich vermutete, dass sie mich sowohl in Sicherheit wiegen wie auch entmutigen wollte; dass sie gern mit Strenge vorgebracht hätte: »Bilden Sie sich etwa ein, Sie könnten mit weniger als sechs Monaten davonkommen? Bilden Sie sich ein, dass Sie etwa nach Ablauf dieser Zeit Ihrem Sieg auch nur einen Schritt näher gekommen sein werden?« Mir ging immer wieder durch den Kopf, dass sie sich vielleicht einen Spaß daraus machte, mich mit Hinterlist dazu zu bringen, dass ich eine Verpflichtung einging, obwohl sie in Wirklichkeit ihren Schatz längst geopfert hatte. Irgendwann war meine Anspannung, diesen Punkt betreffend, so unerträglich geworden, dass ich beinahe mit der Frage herausgeplatzt wäre, und das Einzige, was mich davon zurückhielt, war ein instinktives Zurückschrecken – um auf keinen Fall einen Fehler zu begehen – vor der letzten gewaltsamen Preisgabe meiner selbst. Sie war eine so raffinierte alte Hexe, dass man niemals sagen konnte, wo man gerade mit ihr stand. Sie können sich vorstellen, dass es kaum zur Lösung des Rätsels beitrug, als sie, kaum dass sie mir versichert hatte, sie werde über meinen Vorschlag nachdenken, ohne irgendeine ersichtliche Überleitung mit zögerlicher Handbewegung einen kleinen Gegenstand aus ihrer Tasche zog, der in zerknittertes weißes Papier eingewickelt war. Einen Moment lang behielt sie ihn in der Hand und ergriff dann wieder das Wort: »Verstehen Sie etwas von Raritäten?«
    »Von Raritäten?«
    »Von Antiquitäten, dem alten Plunder, für den die Leute heutzutage so viel Geld bezahlen. Wissen Sie etwas über die Preise, die man heute dafür zahlt?«
    Ich glaubte zu wissen, was nun käme, sagte aber in aller Unbefangenheit: »Beabsichtigen Sie etwas zu kaufen?«
    »Nein, ich möchte etwas verkaufen. Wieviel würde ein Kunstliebhaber mir dafür geben?« Sie faltete das

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