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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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der Jugend verdirbt.
    »Ich spiele darauf an, dass sie schmerzliche Erinnerungen enthalten.«
    »Oh nein, ich glaube nicht, dass irgendetwas daran schmerzlich ist.«
    »Sie meinen, es gibt nichts, was ihrem Ruf schaden könnt e ?«
    Hierauf nahm das Gesicht von Miss Bordereaus Nichte einen noch seltsameren Ausdruck als gewöhnlich an – ein Eingeständnis von Hilflosigkeit, wie mir schien, ein Appell an mich, gerecht und großzügig mit ihr umzugehen. Ich hatte sie auf die Piazza mitgenommen, sie reizvollen Einflüssen ausgesetzt, ihr eine Aufmerksamkeit gewidmet, die sie zu schätzen wusste, und nun sollte sich dies alles als ein Bestechungsversuch erweisen – eine Bestechung, mit der ich sie dazu bringen wollte, sich in bestimmter Weise gegen ihre Tante zu wenden. Sie war von Natur aus nachgiebig und bereit, fast alles für einen Menschen zu tun, der sich ihr gegenüber als besonders freundlich erwies, doch die größte Freundlichkeit wäre, gerade diese Bereitschaft nicht allzu sehr auszunutzen. Es war recht merkwürdig, wie ich im Nachhinein dachte, dass sie mir den Mangel an Respekt gegenüber dem Charakter ihrer Tante nicht im Geringsten zu verübeln schien, was von denkbar schlechtestem Geschmack gezeugt haben würde, wenn etwas weniger Lebensnotwendiges – zumindest aus meiner Sicht – auf dem Spiel gestanden hätte. Ich glaube nicht, dass sie das ermessen konnte. »Sind Sie der Meinung, sie habe irgendetwas Schlimmes geta n ?« fragte sie einen Moment später.
    »Um Himmels willen, niemals würde ich so etwas behaupten, und es geht mich auch nichts an. Und sollte sie es je getan haben«, sagte ich in einlenkendem Ton, »dann war es zu anderen Zeiten, in einer anderen Welt. Aber warum sollte sie die Papiere nicht vernichte n ?«
    »Dafür liebt sie sie zu sehr.«
    »Auch jetzt noch, wo sie doch ihrem Ende entgegengeh t ?«
    »Wenn sie sich dessen sicher ist, vielleicht tut sie es dann.«
    »Genau das ist es, Miss Tina«, sagte ich, »was Sie verhindern müssen, das wäre meine Bitte.«
    »Wie kann ich das verhindern?«
    »Können Sie die Papiere nicht bei ihr herausholen?«
    »Und sie dann Ihnen geben?«
    Oberflächlich betrachtet traf dies die Sachlage mit scharfer Ironie, doch ich war sicher, dass sie dies nicht beabsichtigt hatte. »Ich wollte sagen, dass Sie mich einen Blick darauf werfen lassen könnten und ich sie kurz durchsehe. Es ist nicht um meinetwillen, oder dass ich sie um jeden Preis für jemand anders haben wollte. Es geht einfach darum, dass sie von so ungeheurem Interesse für die Öffentlichkeit wären, von so unschätzbarer Bedeutung als Beitrag zu Jeffrey Asperns Geschichte.«
    Sie hörte mir in ihrer üblichen Art zu, als würde sie mit Sachverhalten überschüttet, von denen sie noch nie gehört hatte, und ich fühlte mich fast so niederträchtig wie ein Zeitungsreporter, der sich den Zugang zu einem Trauerhaus erzwingt. Dieses Gefühl verstärkte sich noch, als sie mit klarer Stimme sagte: »Vor einiger Zeit hat ein Herr an sie geschrieben, der ganz ähnliche Worte gebrauchte. Auch er wollte ihre Papiere haben.«
    »Und hat sie ihm geantwortet?« fragte ich und war ein wenig beschämt, ihr nicht mit derselben Aufrichtigkeit wie mein Freund begegnet zu sein.
    »Erst nachdem er zwei- oder dreimal geschrieben hatte. Sie war sehr böse auf ihn.«
    »Und was hat sie gesagt?«
    »Sie hat ihn einen Teufel genannt«, antwortete Miss Tina kategorisch.
    »Hat sie diesen Ausdruck in ihrem Brief verwendet?«
    »Aber nein; sie hat es zu mir gesagt. Sie gab mir den Auftrag, ihm zu schreiben.«
    »Und was haben Sie geschrieben?«
    »Ich erklärte ihm, dass es überhaupt keine Papiere gäbe.«
    »Der arme Man n !« brachte ich mit gepresster Stimme hervor.
    »Ich wusste zwar, dass es welche gab, doch ich schrieb ihm so, wie sie es mir aufgetragen hatte.«
    »Natürlich, so mussten sie es machen. Aber ich hoffe, dass ich nicht auch für einen Teufel gehalten werde.«
    »Das hängt davon ab, was Sie noch alles von mir verlangen«, sagte meine Begleiterin mit einem Lächeln.
    »Oh je, wenn die Gefahr besteht, dass auch Sie so über mich denken, dann steht es schlecht um meine Chance n ! Ich würde Sie niemals darum bitten, für mich zu stehlen oder gar zu schwindeln – Sie können nämlich gar nicht schwindeln, höchstens auf Papier. Das Wichtigste von allem aber ist, Ihre Tante daran zu hindern, die Papiere zu vernichten.«
    »Wie soll das gehen, ich habe keinen Einblick in ihre Angelegenheiten«,

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