Die Aspern-Schriften (German Edition)
Als ich sie fragte, wie lange es her sei, dass sie so auf dem Wasser dahingefahren sei, antwortete sie: »Ach, ich weiß gar nicht, es ist lange her – nicht mehr, seit meine Tante krank geworden ist.« Dies war nicht das einzige Mal, dass sie sich so völlig unbestimmt über die vergangenen Jahre und den Zeitpunkt äußerte, mit dem die Ära von Miss Bordereaus gesellschaftlicher Stellung zu Ende gegangen war. Ich fühlte mich nicht frei, sie allzu lange auszuführen, doch unternahmen wir einen beachtlichen giro , bevor wir auf die Piazza gingen. Ich stellte ihr keine Fragen und hielt mich bewusst aus ihrem häuslichen Leben und den Dingen, die ich gern gewusst hätte, heraus; stattdessen ergoss ich meinen ganzen Wissensschatz über die Bauwerke vor uns und um uns herum in ihre Ohren und erzählte ihr auch von Florenz und Rom, wobei ich mich über den Reiz und die Vorzüge des Reisens ausließ. Während dessen saß sie zurückgelehnt in dem tiefen Lederkissen, hörte aufmerksam zu und wandte geflissentlich ihren Blick allem zu, worauf ich sie hinwies, und erst geraume Zeit später gestattete sie sich die Bemerkung, dass sie Florenz eigentlich besser kennen müsste als ich, da sie jahrelang mit ihrer Verwandten dort gelebt habe. Schließlich sagte sie mit der scheuen Ungeduld eines Kindes: »Fahren wir denn gar nicht zur Piazz a ? Ich möchte sie so gerne sehen.« Unverzüglich gab ich Anweisung, auf direktem Weg dorthin zu fahren, und dann saßen wir schweigend da und warteten auf das Erreichen unseres Ziels. Nach einer Weile der Stille brach es jedoch aus ihr heraus: »Ich habe herausgefunden, was es mit meiner Tante auf sich hat: Sie befürchtet, Sie könnten fortgehe n !«
Ich schnappte nach Luft. »Was hat sie auf diese Idee gebrach t ?«
»Sie hat sich vorgestellt, Sie hätten sich bei uns nicht wohl gefühlt. Darum verhält sie sich jetzt anders.«
»Sie meinen, sie möchte dafür sorgen, dass ich mich wohler fühl e ?«
»Na ja, sie möchte nicht, dass Sie fortgehen. Sie möchte, dass Sie hier bleiben.«
»Ich nehme an, Sie sagen das wegen der Miete«, bemerkte ich freimütig.
Das bestärkte Miss Tina sogar in ihrer Offenherzigkeit. »Ja, wie Sie wissen, soll ich doch mehr bekommen.«
»Über wie viel sollten Sie nach ihrer Meinung denn verfüge n ?« fragte ich mit all der Fröhlichkeit, die ich jetzt empfand. »Sie sollte die Summe genau festlegen, damit ich solange bleiben kann, bis sie erreicht ist.«
»Oh nein, das würde mir überhaupt nicht gefallen«, sagte Miss Tina. Es wäre unerhört, wenn Sie eine solche Verpflichtung auf sich nehmen müssten.«
»Aber wenn Sie davon ausgehen, ich hätte meine Gründe, so lange in Venedig zu bleibe n ?«
»Dann wäre es besser für Sie, in einem anderen Haus zu wohnen.«
»Und was würde Ihre Tante dazu sage n ?«
»Das würde ihr überhaupt nicht gefallen. Aber eigentlich denke ich, Sie täten gut daran, Ihre Gründe aufzugeben und von hier wegzugehen.«
»Liebe Miss Tina«, sagte ich, »es ist nicht so leicht, meine Gründe aufzugebe n !«
Sie antwortete nicht sofort darauf, doch nach einer Weile brach es erneut aus ihr heraus: »Ich glaube, ich kenne Ihre Gründ e !«
»Ich wage zu behaupten, weil ich Ihnen neulich Abend anvertraut habe, wie sehr ich mir Ihre Hilfe wünschte, um meine Pläne zum Erfolg zu führen.«
»Ich kann das nur, wenn ich meiner Tante gegenüber falsches Spiel spiele.«
»Was wollen Sie damit sagen, mit ihr falsches Spiel spiele n ?«
»Weil sie niemals mit dem einverstanden wäre, was Sie von ihr wollen. Sie ist schon so oft gefragt worden, man hat ihr schon oft geschrieben. Es macht sie entsetzlich ärgerlich.«
»Dann besitzt sie tatsächlich wertvolle Papier e ?« rief ich voreilig aus.
»Aber ja, sie hat alle s !« seufzte Miss Tina und wirkte dabei seltsam erschöpft, ganz plötzlich schlug ihre Stimmung ins Düstere um.
Diese Worte ließen mein Herz höher schlagen, denn ich betrachtete sie als kostbaren Beweis. Sie hatten mich zu tief berührt, als dass ich hätte sprechen können, und in der Zwischenzeit war die Gondel bei der Piazzetta angekommen. Nachdem wir ausgestiegen waren, fragte ich meine Begleiterin, ob sie lieber um den Platz herumspazieren oder direkt zu dem großen Café gehen und sich dort niedersetzen wolle. Darauf erwiderte sie, sie wolle das tun, was mir das Liebste wäre – ich solle nur daran denken, wie wenig Zeit sie habe. Ich versicherte ihr, wir hätten genug Zeit für beides, und so
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