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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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weiße Papier auseinander und bedeutete mir mit einer Geste, aus ihrer Hand ein kleines ovales Porträt entgegenzunehmen. Als ich es ergriff, konnte ich nur hoffen, dass meine Finger nicht verrieten, wie sehr sie danach gierten, und sie fügte noch hinzu: »Ich würde mich nur für einen guten Preis davon trennen.«
    Auf den ersten Blick erkannte ich Jeffrey Aspern, und ich war mir wohl bewusst, dass ich im selben Augenblick errötete. Da sie mich jedoch beobachtete, behielt ich meine Geistesgegenwart und rief: »Welch ein bemerkenswertes Gesich t ! Sagen Sie mir doch, wer das ist.«
    »Es ist ein alter Freund von mir, zu seiner Zeit ein sehr bekannter Mann. Er hat es mir selbst geschenkt, doch ich scheue mich, seinen Namen zu nennen, denn Sie könnten schon von ihm gehört haben, da Sie ja Kritiker und Historiker sind. Ich weiß, die Welt dreht sich schnell weiter und eine Generation vergisst die vorherige. In meiner Jugend war er sehr in Mode.«
    Vielleicht war sie erstaunt über die Sicherheit meines Auftretens, aber ich war überrascht über ihre Selbstgewissheit; über das Maß an Kraft, das sie in ihrem Gesundheitszustand und ihrem hohen Alter aufbrachte, mit mir zu ihrem eigenen Vergnügen einen solchen Spott zu treiben – und dazu aufgelegt zu sein, mich auf die Probe zu stellen, mich auszunutzen und zum Narren zu halten. So zumindest lautete meine Erklärung dafür, dass sie mir das Erinnerungsstück vorführte, denn ich konnte nicht glauben, dass sie es wirklich verkaufen wollte oder an irgendeiner Information von meiner Seite interessiert war. Ihre Absicht war, es mir verlockend vor Augen zu führen und dann einen Preis zu nennen, der es unerreichbar machte. »Das Gesicht kommt mir bekannt vor, aber ich kann beim besten Willen nicht darauf kommen«, sagte ich und wendete das Bild nach allen Seiten, während ich es sehr genau betrachtete. Es war ein sorgfältig gearbeitetes, aber kein überragendes Kunstwerk, größer im Format als die üblichen Miniaturen, und es zeigte einen jungen Mann mit einem bemerkenswert schönen Gesicht in einem grünen Mantel mit hohem Kragen und einer lederbraunen Weste. Ich spürte in dem kleinen Bildnis eine unverkennbare Ähnlichkeit und schätzte, dass der Dargestellte zum Zeitpunkt des Malens etwa fünfundzwanzig Jahre alt gewesen sein muss. Es existieren, wie alle Welt weiß, drei weitere Porträts des Dichters, doch keines aus so jungen Jahren wie dieses fein gemalte Bild. »Ich habe ihn nie in natura gesehen, es ist eindeutig ein Mann aus einem vergangenen Jahrhundert, aber ich habe andere Darstellungen von diesem Gesicht gesehen«, fuhr ich fort. »Sie haben Zweifel bekundet, ob die heutige Generation wohl von diesem Mann gehört habe, doch mir ist sonnenklar, dass er eine Berühmtheit sein muss. Aber wer ist er nur? Ich kann ihn nicht einordnen – ich kann ihn nicht mit Namen nennen. War er ein Schriftsteller? Sicherlich ist er ein Dichter.« Für mich stand fest, dass sie als Erste den Namen Jeffrey Aspern aussprechen sollte, nicht ich.
    Diesen Entschluss hatte ich in Unkenntnis von Miss Bordereaus äußerst resolutem Charakter gefasst, doch für meine Ohren formten ihre Lippen niemals jene Silben, die ihr so viel bedeuteten. Sie schenkte meiner Frage keinerlei Beachtung, sondern hob ihre Hand, um das Bild wieder an sich zu nehmen, und dabei bediente sie sich einer Geste, die trotz ihrer Kraftlosigkeit in hohem Maße gebieterisch war. »Nur jemand, der dies von sich aus wüsste, würde mir den geforderten Preis bezahlen«, sagte sie mit einer gewissen Nüchternheit.
    »Ach so, dann haben Sie also eine Vorstellung von dem Preis?« sagte ich, gab ihr aber das hübsche kleine Bild nicht zurück; nicht etwa, um sie zu bestrafen, sondern weil ich mich instinktiv daran klammerte. Wir sahen einander ungerührt an, während ich es noch immer festhielt.
    »Ich weiß, wie viel ich als Mindestpreis nehmen würde. Was ich von Ihnen in Erfahrung bringen wollte, war der höchste Preis, den ich dafür erzielen könnte.«
    Sie machte eine Bewegung, zog sich mit einer gewissen Anspannung zusammen, als fühlte sie sich von der jähen Befürchtung, ihr kostbares Stück verloren zu haben, zu der enormen Anstrengung aufgefordert, sich zu erheben, um es mir wegzuschnappen. Unverzüglich legte ich es zurück in ihre Hand und sagte dabei: »Ich würde es schon gern erwerben, aber bei Ihren Vorstellungen läge es weit über meinen Möglichkeiten.«
    Sie drehte die kleine ovale Tafel in ihrem

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