Die Aspern-Schriften (German Edition)
fort, worauf die alte Dame erwiderte:
»Nein, nein; ich kann auch von hier aus ein Auge auf Sie habe n !«
»Sie sind sehr müde, sicherlich werden Sie heute Nacht krank sei n !« rief Miss Tina.
»Unsinn, meine Liebe; ich fühle mich im Augenblick so gut wie seit einem Monat nicht mehr. Morgen werde ich wieder hier herauskommen. Ich möchte dort sein, wo ich diesen klugen Herrn treffen kann.«
»Sollten Sie mich nicht lieber in ihrem Wohnzimmer treffen?« fragte ich.
»Wollten Sie etwa sagen, dann hätten Sie ein leichteres Spiel mit mir?« gab sie zurück und fixierte mich einen Moment lang unter ihrem grünen Schirm.
»Ach, das habe ich doch nirgendw o ! Ich schaue Sie an, aber ich sehe Sie nicht.«
»Sie regen sie schrecklich auf, und das tut ihr nicht gut«, sagte Miss Tina zu mir gewandt und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
»Ich möchte Sie beobachten, ich möchte Sie im Auge behalte n !« fuhr Miss Bordereau fort.
»Na gut, dann sollten wir so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen – wo, ist mir egal. Dann haben Sie es am leichtesten.«
»Vielen Dank, für heute habe ich Sie genug gesehen. Ich bin zufrieden. Jetzt möchte ich nach Hause«, sagte Juliana. Miss Tina legte ihre Hände auf die Lehne des Rollstuhls und begann ihn zu schieben, doch ich bat sie, mir ihren Platz zu überlassen. »Oh ja, auf diese Weise dürfen Sie mich bewegen – aber auf keine ander e !« rief die alte Frau aus, als sie merkte, wie ich sie sicher und leicht über den glatten, steinharten Boden rollte. Bevor wir die Tür zu ihrer Wohnung erreichten, bat sie mich anzuhalten, und sie warf einen letzten langen Blick nach allen Seiten durch die prachtvolle sala . »Es ist wirklich ein wundervolles Hau s !« murmelte sie; dann schob ich sie weiter. Als wir in den Salon eingetreten waren, ließ Miss Tina mich wissen, dass sie nun allein zurechtkommen könne, und im selben Augenblick erschien die kleine rothaarige donna , um ihrer Herrin zu helfen. Miss Tina hatte offensichtlich die Absicht, ihre Tante auf der Stelle ins Bett zu bringen. Ich gestehe, dass ich mich trotz dieser Eile der Indiskretion schuldig machte, dort noch länger zu verweilen; mich hielt das Gefühl, den von mir so begehrten Objekten nahe zu sein – die wahrscheinlich irgendwo in dem ausgeblichenen, ungemütlichen Raum verstaut waren. Tatsächlich war das Zimmer von einer Kargheit, die nicht darauf schließen ließ, dass hier Dinge von Wert verborgen lagen; es gab weder schummerige Ecken noch mit Vorhängen verdeckte Winkel, weder massive Schränke noch Truhen mit Eisenbeschlägen. Zudem war es möglich oder sogar wahrscheinlich, dass die alte Dame ihre Erinnerungsstücke in ihrem Schlafzimmer aufbewahrte, zum Beispiel in einer abgewetzten Schachtel, die sie unter das Bett geschoben oder in die Schublade einer wackeligen Frisierkommode gelegt hatte, wo sie sich in Sichtweite im Licht der trüben Nachttischlampe befanden. Dennoch richtete ich meinen Blick auf jedes Möbelstück, auf jedes denkbare Versteck für einen Schatz, und stellte fest, dass es ein halbes Dutzend Einrichtungsstücke mit Schubladen gab, insbesondere einen hohen alten Sekretär mit Messingbeschlägen im Empirestil – ein etwas altersschwaches Behältnis, das sich aber durchaus eignete, darin geheime Raritäten zu verwahren. Ich weiß nicht, warum gerade dieses Möbelstück mich so gefangen nahm, da ich kaum die Absicht hatte, es aufzubrechen; aber ich starrte es so intensiv an, dass Miss Tina es bemerkte und errötete. Dass ihr das wiederfuhr, machte mich sicher, in meiner Annahme richtig zu liegen, dass die Aspern-Schriften, wo auch immer sie vorher gewesen sein mögen, sich in diesem Moment hinter dem unnützen kleinen Schloss des Sekretärs versteckt hielten. Es fiel mir schwer, meine Aufmerksamkeit von der glanzlosen Mahagonifront wegzulenken, als mir bewusst wurde, dass mich nichts weiter als ein bisschen Holz von dem Ziel meiner Hoffnungen trennte. Doch ich nahm meinen leicht verwirrten Verstand wieder zusammen und gab mir einen Ruck, um mich von meiner Gastgeberin zu verabschieden. Um meine Anspannung liebenswürdiger erscheinen zu lassen, sagte ich zu ihr, dass ich ihr sicherlich bald eine Einschätzung bezüglich des kleinen Bildes überbringen würde.
»Des kleinen Bildes?« fragte Miss Tina überrascht.
»Was weißt du schon davon, meine Liebe?« sagte die alte Frau. »Sie müssen sich keine Gedanken machen. Ich habe den Preis bereits festgelegt.«
»Und wie hoch
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