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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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    »Ja natürlich, weil sie sich aufgeregt hat. Das nimmt sie entsetzlich mit.«
    »Das wird wieder passieren, weil sie selbst dafür sorgt. So war es auch heute Nachmittag.«
    »Ich weiß, sie darf sich nicht mehr hinausbegeben«, sagte Miss Tina in einem ihrer Anflüge von tieferer Einsicht.
    »Wozu soll eine solche Bemerkung nutze sein«, gestattete ich mir zu fragen, »wenn Sie gleich wieder mit ihr losschieben, kaum dass sie Sie darum bittet?«
    »Ich werde nicht – ich werde es nicht wieder tun.«
    »Sie müssen lernen, sich ihr zu widersetzen«, fuhr ich fort.
    »Gewiss, ja, das werde ich tun; und es wird mir noch besser gelingen, wenn Sie es für richtig halten.«
    »Sie sollen es nicht für mich tun – sondern für sich selbst. Es fällt alles auf Sie selbst zurück, wenn Sie ängstlich und aus der Fassung sind.«
    »Aber ich bin nicht mehr aus der Fassung«, sagte Miss Tina recht gelassen. »Sie ist jetzt ganz ruhig.«
    »Ist sie wieder bei Bewusstsein – spricht sie?«
    »Nein, sie spricht nicht, aber sie hat meine Hand genommen, sie hat sie festgehalten.«
    »Ja, ja«, erwiderte ich, »ich habe gesehen, wie viel Kraft sie noch hat, als sie heute Nachmittag das Bild an sich gerissen hat. Aber wenn sie Sie festhält, wie kommt es dann, dass Sie hier sind?«
    Miss Tina ließ einen Moment verstreichen; obwohl ihr Gesicht völlig im Dunkeln lag – sie stand mit dem Rücken zum Licht im Salon, und ich hatte meine Kerze weit entfernt, fast an der Tür zum Empfangssaal, abgestellt – meinte ich sie fast kindlich lächeln zu sehen. »Ich bin absichtlich gekommen – ich habe Ihre Schritte gehört.«
    »Wie kann das sein, ich bin auf Zehenspitzen gegangen, so geräuschlos wie möglich.«
    »Trotzdem, ich habe Sie gehört«, sagte Miss Tina.
    »Und ist ihre Tante nun allein?«
    »Aber nein, Olimpia sitzt bei ihr.«
    Ich rang mit mir. »Sollten wir nicht hineingehen?« Und ich machte eine Kopfbewegung zum Salon hin; immer stärker hatte ich das Bedürfnis, an Ort und Stelle zu sein.
    »Dort können wir nicht reden – sie würde uns hören.«
    Fast hätte ich ihr geantwortet, dass wir auch schweigend dort sitzen könnten, aber ich spürte ganz deutlich, dass mir damit nicht gedient war, denn es gab etwas, das ich sie unbedingt fragen wollte. So schlug ich vor, wir könnten ein wenig im Empfangssaal herumgehen, uns aber mehr zum anderen Ende hin bewegen, wo wir unsere Freundin nicht stören würden. Miss Tina stimmte vorbehaltlos zu; der Doktor käme noch einmal vorbei, sagte sie, dann könnte sie ihn gleich an der Tür empfangen. Wir schlenderten durch den prächtigen und überflüssigen Empfangssaal, wo unsere Schritte auf dem Marmorfußboden – vor allem als wir anfänglich nichts sagten – lauter zu hören waren, als ich gedacht hatte. Als wir auf der anderen Seite angekommen waren – bei dem großen, stets geschlossenen Fenster, das sich zum Balkon öffnete, der auf den Kanal hinausging –, schlug ich ihr vor, am besten dort zu bleiben, da sie den Arzt von dort aus eher bemerken würde. Ich öffnete das Fenster, und wir traten hinaus auf den Balkon. Die Luft über dem Kanal kam mir noch schwüler, noch heißer vor als die im Empfangssaal. Der Ort war still und menschenleer; die stillen Nachbarn waren bereits schlafen gegangen. Hier und dort leuchtete eine Laterne auf dem schmalen schwarzen Wasserlauf mit doppeltem Lichtschein; aus der Ferne drang die Stimme eines Mannes zu uns herüber, der singend nach Hause ging, das Jackett über die Schulter gelegt und den Hut schräg übers Ohr gezogen. Das hinderte jedoch nicht daran, die Szene comme il faut zu nennen, wie Miss Bordereau sich ausgedrückt hatte, als ich ihr zum ersten Mal begegnete. Soeben glitt mit langsamem, rhythmischem Plätschern der Ruder eine Gondel über den Kanal, und wir lauschten und schauten ihr schweigend nach. Sie hielt nicht an, sie hatte nicht den Arzt an Bord; und als sie außer Sichtweite war, sagte ich zu Miss Tina: »Und wo sind sie jetzt, die Sachen, die in dem Schrankkoffer waren?«
    »Im Schrankkoffer?«
    »Der grünen Kiste, die Sie mir im Zimmer Ihrer Tante gezeigt haben. Sie sagten, ihre Papiere wären da drin gewesen; Sie meinten wohl, sie hätte sie woanders untergebracht.«
    »Oh ja; in dem Schrankkoffer befinden sie sich nicht«, sagte Miss Tina.
    »Darf ich fragen, ob Sie nachgeschaut haben?«
    »Ja, ich habe nachgeschaut – Ihnen zu Gefallen.«
    »Wieso mir zu Gefallen, liebe Miss Tina? Wollen Sie damit sagen,

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