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Die Aspern-Schriften (German Edition)

Die Aspern-Schriften (German Edition)

Titel: Die Aspern-Schriften (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry James
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Zudringlichkeiten und all die Taktlosigkeiten gesprochen hatte, zu denen mich mein heftiger Wunsch, in den Besitz von Jeffrey Asperns Schriften zu gelangen, fähig gemacht hatte, muss ich nun auch nicht vor dem Eingeständnis dieser letzten Indiskretion zurückschrecken. Ich betrachte sie als das Schlimmste, was ich getan habe, und doch gab es mildernde Umstände. Ich war tief besorgt, wenn auch zweifellos nicht uneigennützig, Neues über Julianas Zustand zu erfahren, und Miss Tina hatte nun einmal einer späteren Begegnung mit mir zugestimmt, und ich hätte es als Ehrensache angesehen, diese einzuhalten. Man könnte einwenden, dass die Dunkelheit des Zimmers als Zeichen dafür gewertet werden könnte, dass Miss Tina mich aus dieser Verpflichtung entließ, und darauf kann ich nur erwidern, dass ich nicht entlassen zu werden wünschte.
    Die Tür zu Miss Bordereaus Schlafzimmer stand offen, und ich konnte dahinter einen schwachen Lichtschein erkennen. Es war kein Geräusch zu hören – meine Schritte hatten offenbar niemanden aufgeschreckt. Ich ging tiefer in das Zimmer hinein und blieb dann stehen, mit meiner Lampe in der Hand. Ich wollte Miss Tina die Möglichkeit geben, auf mich zuzukommen, falls sie noch bei ihrer Tante saß, woran ich keinen Zweifel hatte. Ich gab keinen Laut von mir, um sie zu mir zu rufen; ich wartete nur ab, ob sie vielleicht mein Licht sähe. Sie sah es nicht, und ich erklärte es mir damit – später fand ich heraus, dass ich recht hatte –, dass sie eingeschlafen war. Wenn sie tatsächlich eingeschlafen war, dann belastete sie der Gedanke an ihre Tante nicht, und diese Erklärung hätte mich dazu veranlassen sollen, aus dem Zimmer zu gehen, wie ich hineingekommen war. Ich muss wiederholen, dass sie dies nicht tat, denn im selben Moment nahm mich etwas anderes gefangen. Ich hatte keinen bestimmten Vorsatz, keine böse Absicht, fühlte mich aber durch ein heftiges, wenn auch absurdes Gefühl an Ort und Stelle festgehalten, dass sich mir eine einmalige Gelegenheit bot. Gelegenheit für was, das hätte ich nicht sagen können, da ich keineswegs im Sinn gehabt hatte, mich auf einen Diebstahl einzulassen. Selbst wenn mich dieser Umstand in Versuchung geführt hätte, wäre ich doch mit der Tatsache konfrontiert gewesen, dass Miss Bordereau ihren Sekretär, den Schrank und die Schubladen unter dem Tisch nicht offen stehen ließ. Ich hatte keine Schlüssel, kein Werkzeug und auch nicht die Absicht, ihre Möbel zu ruinieren. Dennoch kam mir in den Sinn, dass ich jetzt, so allein und ungestört, da alles friedlich und ruhig war, dem Ziel meiner Hoffnungen näher war als jemals zuvor. Ich hielt meine Lampe hoch und ließ das Licht über die Möbelstücke gleiten, als könnte es mir genauere Auskünfte geben. Noch immer war keine Bewegung aus dem anderen Zimmer zu vernehmen. Wenn Miss Tina tatsächlich schlief, dann schlief sie fest. Tat sie es – dieses großzügige Geschöpf – absichtlich, um mir freie Hand zu lassen? Wusste sie, dass ich dort war, und verhielt sich nur ruhig, um zu sehen, was ich dort machte – wozu ich im Stande war? Doch war ich das wirklich, als es so weit war? Sie wusste sogar besser als ich, wie wenig.
    Ich blieb vor dem Sekretär stehen und starrte ihn an, was sicher sinnlos und grotesk war; denn was hatte er mir schon zu sagen? Erstens war er verschlossen und zweitens enthielt er sicherlich nichts, woran ich interessiert gewesen wäre. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass die Papiere bereits vernichtet waren, und selbst wenn sie noch existierten, hätte die schlaue alte Frau sie bestimmt nicht an einem solchen Platz untergebracht, nachdem sie sie aus dem grünen Schrankkoffer herausgenommen hatte – bestimmt hätte sie sie nicht, da ihr an der größtmöglichen Sicherheit gelegen war, von dem besseren Versteck in ein schlechteres umgebettet. Der Sekretär war auffälliger, stand exponierter in dem Zimmer, das sie nicht länger unter Bewachung halten konnte. Er hatte ein Schloss für einen Schlüssel, aber zusätzlich auch einen Messinggriff in Form eines Knaufs; das sah ich, als ich das Kerzenlicht darüber gleiten ließ. Und ich tat noch etwas, um meine Krise auf den Höhepunkt zu treiben; mir schoss plötzlich in den Kopf, dass Miss Tina wohl doch wünschte, ich solle die Wahrheit erfahren. Wenn das nicht ihrem Wunsch entsprach, wenn sie wollte, dass ich mich aus allem raushielt, warum hatte sie dann nicht die Verbindungstür zwischen dem Wohnzimmer und dem

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