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DIE ASSASSINE

DIE ASSASSINE

Titel: DIE ASSASSINE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joshua Palmatier
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Er blickte mich flehentlich an, und in den schimmernden Tiefen seiner Augen sah ich …
    Ich sah Carl. Nicht den Geschäftsmann vor der Schänke, der sich umdrehte und dem auf seine Anweisungen wartenden Meuchelmörder zunickte. Nicht den Händler in der Gildenhalle, der leise über Drohungen und Tod sprach. Davon sah ich nichts.
    Stattdessen sah ich Carl, wie er sich selbst sah. Einen Mann,der sich den Weg in die höchsten Ränge der Händlergilde erkämpft hatte. Einen Mann, der sich mit jemandem verbündet hatte, der zu mächtig für ihn war, um ihn zu beherrschen, und der dabei seinen Weg verloren hatte. Einen Mann, der selbst jetzt noch einen Weg zu finden versuchte, zu überleben.
    Er hatte das Gesicht, das er stets der Welt gezeigt hatte, endlich abgenommen, als er erkannt hatte, dass er ein toter Mann war.
    Das alles sah ich in seinen Augen. Seine Träume, seine Hoffnungen, seine Verzweiflung. Er wollte leben und kämpfte verzweifelt darum, obwohl die Kraft bereits aus seinen Armen strömte, sodass er gegen die Truhe sank. Ich sah den Mann hinter dem Händler. Den Menschen, den ich soeben getötet hatte.
    Die Erkenntnis jagte grelles Entsetzen durch mich hindurch und tief in mein Innerstes hinein, und ich zuckte zurück. Die wohlige, befriedigende Wärme wich, verpuffte in einem gekeuchten Atemzug.
    Jäh stand ich auf, und Carls ausgestreckte Hand fiel schlaff auf den Boden. Alles Leben, alle Anspannung verließ seinen Körper. Ich wich von dem Leichnam zurück. Panik kribbelte in meinen Händen, lief mir über die Haut, richtete die feinen Härchen an meinen Armen und im Nackenansatz auf.
    Als mein Rücken gegen die Wand prallte, schnappte ich nach Luft und verharrte regungslos.
    Und dann rannte ich los, stürmte auf den Flur und zum Bedienstetengang, die Treppe hinunter und hinaus in den Garten. Ich begegnete niemandem, sah niemanden, nicht einmal, als ich mich von der Mauer um Carls Anwesen hinuntergleiten ließ. Ich flüchtete durch die Straßen des äußeren Kreises, sah kaum, wohin ich rannte, bewegte mich, ohne nachzudenken, hörte nichts, roch nur den süßen, klebrigen Gestank von Blut. Ich sah nur die Leichen, alle Leichen, vor allem aber Carl, seine Augen, die großen Blutspritzer auf seinen Kleidern. Ich sah, wie sein Mund sich bewegte, um etwas zu sagen, um Luft zu holen, obwohl es für ihn nur noch Ersticken gab.
    Ich bog um eine Ecke, gelangte unweit des Tores auf die Hauptstraße und prallte mit einem Gardisten zusammen – mit solcher Wucht, dass wir beide zu Boden stürzten. Mein Körper schlug schwer auf, und mein Kopf krachte auf das Kopfsteinpflaster. Meine Zähne schlugen aufeinander. Ich biss mir in die Zungenspitze, schmeckte Blut wie bitteres Kupfer und schluckte es hinunter. Auf dem Boden liegend, sog ich abgehackt die Luft ein und starrte benommen zum Mond und den Sternen empor.
    Ich hörte den Gardisten fluchen, hörte das Rascheln von Kleidern, als er sich aufrappelte.
    Dann beugte er sich über mich, sodass sein Schatten den Nachthimmel verdeckte.
    Ich erstarrte mit einem scharfen Atemzug.
    Erschrocken blickte er auf mich hinunter, streckte vorsichtig die Hand nach meinem Gesicht aus, wollte mir die Haare wegstreichen. »Varis?«
    Die Panik kehrte zurück, schlimmer als zuvor. Sie erfasste mein Herz, schnürte mir die Kehle zu. Ich konnte nicht sprechen, und der Atem, den ich angehalten hatte, entwich als rauer Stoß, der mir im Hals kratzte.
    Ich musste weg. Schuld stieg in mir auf wie Säure, und mir wurde übel. Ich hatte Blutmal ohne Ericks Genehmigung, ohne den Segen der Regentin getötet. Irgendwie war es mir seit der Begegnung mit Borund gelungen, dies tief in meinem Innern zu verschließen.
    Aber nun hatte Erick mich gefunden.
    Und plötzlich erkannte ich, dass es unendlich schlimmer war und nicht nur um Blutmal ging.
    Ich hatte soeben erneut getötet. Nicht, um mich oder Borund zu retten. Ich hatte Carl getötet, weil ich es wollte, weil er William wehgetan hatte.
    Ich musste weg! Das Verlangen glich einem verzweifelten Schrei. Ich konnte mich Erick nicht stellen, nicht mit Blut an den Händen, auf dem Hemd und auf dem Dolch.
    Aber ich konnte mich nicht bewegen. Erick bannte mich mit den Augen, die von Erschrecken und Zorn zu etwas anderem übergingen: Besorgnis und Verwunderung.
    Dann berührte er mein Gesicht, strich mir mit den Fingern über die Stirn zum Ohr hinab, und ich zerbrach; die Tränen kamen jäh und heiß, und mir stockte der Atem.
    »Varis«, sagte er noch

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