DIE ASSASSINE
Unterschlupfs abgestellt hatte.
Verwundert starrte ich darauf. Dann tastete ich unter der schmierigen Decke nach meinem Dolch, konnte ihn aber nicht finden. Entsetzen erfasste mich, und in meiner Brust wühlte die Angst, dass ich die Waffe bei dem fetten Mann zurückgelassen oder dass Erick sie an sich genommen oder dass ich sie gar verloren hatte. Dann aber schlossen meine Finger sich um den Griff.
Ich stieß die Decke beiseite und kroch zu dem Sack, in dem ich Brot und Käse entdeckte. Und Orangen.
Nur zweimal noch dachte ich an den fetten Mann, während ich erst das Brot, dann den Käse verschlang. Die Orangen hobich auf. Mittlerweile war die Abenddämmerung angebrochen, und ich dachte erneut an den mehlweißen Mann. Mein Hunger war noch nicht gestillt. Ich war immer hungrig.
Schließlich kroch ich aus meinem Unterschlupf und traf Erick wartend an. Er kauerte auf der anderen Seite der Gasse auf den Fersen, den Rücken an die Lehmziegelwand gelehnt. Seine Narben zeichneten sich im Zwielicht deutlich ab. Er wirkte nachdenklich und spähte aus schmalen Augen und mit verkniffenem Mund in die Düsternis.
Ich setzte mich neben den Eingang und fragte mich, wie Erick mich in meinen Unterschlupf bekommen hatte. Die Öffnung war zu schmal, als dass er hindurchgepasst hätte. Plötzlich schaute er mich an, und ich sah, dass er den ganzen Tag gewartet und mein Schluchzen gehört hatte.
Angst erfasste mich.
Offenbar fragte Erick sich, ob ich ihm überhaupt von Nutzen sein konnte.
Er stand auf. »Ich glaube …«, begann er mit gerunzelter Stirn; dann verstummte er und schien es sich anders zu überlegen. »Ich glaube«, setzte er noch einmal an, »wenn ich dich weiter für mich jagen lasse, muss ich dir zeigen, wie man einen Dolch benutzt.«
Damit drehte er sich um und stapfte davon. Doch ehe er in die nächste Gasse einbog, hielt er inne.
Ohne zu mir zurückzuschauen, fügte er hinzu: »Bei Sonnenaufgang treffen wir uns hier zum ersten Unterricht.« In seiner Stimme schwang irgendetwas mit – Bedauern, vermischt mit Furcht, als wäre er im Begriff, etwas zu tun, worauf er niemals stolz sein könnte und das er nie vergessen würde.
Dann war er verschwunden.
Ich wartete, fühlte mich seltsam leer. Den Dolch hielt ich in der Hand. Er fühlte sich irgendwie … schwerer an. Für einen Augenblick stieg Panik in mir auf, und ich hätte die Waffe am liebsten fallen lassen.
Tags darauf, bei Sonnenaufgang, führte Erick mich auf einen Hof. Es war ein anderer Hof als der, in dessen Nähe ich den fetten Mann getötet hatte. Dieser hier war größer, offener. Erick hatte mir Kleidung mitgebracht, dreckverkrustet zwar und abgewetzt, aber immer noch besser als die Lumpen, die ich getragen hatte. Die Sachen kratzten mir auf der Haut, als wir durch eine Öffnung, an der sich einst ein Tor befunden hatte, auf den eingefriedeten Hof traten, der vielleicht zwanzig Schritte von einer Seite zur anderen maß. Ich hielt mich dicht an der Mauer.
Erick stellte unmittelbar neben dem Durchgang einen Sack ab, ging zur Mitte des Hofes und drehte sich um. Aufrecht stand er da und ließ den Blick suchend und angespannt in die Runde schweifen. Er brauchte nicht lange, um mich in den Schatten unter der bröckeligen Steinmauer zu entdecken, und entspannte sich. »Du wirst nie etwas lernen, wenn du dich an der Mauer herumdrückst. Komm her.«
Ich biss mir auf die Lippe und überwand mich, aus der Dunkelheit ins heller werdende Sonnenlicht zu treten und mich Erick zu nähern, bis ich zwei Schritte vor ihm stehen blieb. Finster schaute ich ihm in die Augen.
Er begegnete meinem Blick. Dann lächelte er verhalten. »Normalerweise erteile ich keinen Unterricht«, sagte er und zuckte mit den Schultern. »Das tun andere Gardisten. Deshalb weiß ich nicht so richtig, wie man anderen Leuten etwas beibringt.«
Es gab keine Vorwarnung. In einem Augenblick stand Erick entspannt und mit nachdenklicher Miene da, im nächsten Moment blitzte sein Dolch im Sonnenlicht, und er griff an.
All die Jahre des Überlebens am Siel ließen mich sofort und ohne nachzudenken handeln. Ich duckte mich, wirbelte herum und rannte los. Ehe Ericks Ruf mir ins Bewusstsein drang, hatte ich bereits den offenen Durchgang erreicht.
»Varis! Halt! Das war nur ein Scheinangriff!«
Stolpernd kam ich zum Stehen, duckte mich, legte die Hand auf den bröckelnden Stein der Tormauer und blickte zurück. Erick stand noch dort, wo ich vor ihm geflüchtet war, den Dolch in der Hand. Doch
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